■ Nebensachen aus Tokio: Die eigene Ästhetik des Gummischutzes
Es könnte bald ein Relikt der Vergangenheit sein: das Kondom unter dem Tokonoma in einem japanischen „Love-Hotel“. Selten hat der Gummischutz einen ehrenwerteren Platz eingenommen als vor den Zimmeraltären in Japans urbanen Liebesstätten. Doch nun droht der Kondomliebe mächtige Konkurrenz: Spätestens im nächsten Jahr steht in Japan die Legalisierung der Pille bevor. So unglaublich es anmutet, Japan ist — abgesehen von Nord- Korea — das einzige Land, das diese Verhütungsmethode derzeit verbietet.
Das Erstaunliche daran: Nur wenig Frauen in Japan rufen nach der Pille. Populäre Frauenzeitungen und Bewegungsblätter widmen der geplanten Verhütungsreform, die derzeit auf einen letzten Bescheid des Gesundheitsministeriums wartet, seit Jahren kaum Beachtung. Kommt es also in den nächsten Monaten endlich zu einer Neuregelung, die die Pille erlaubt, ist das vor allem dem Druck der Industrie zu verdanken: Zwölf ausländische und japanische Pharmakonzerne haben sich zusammengetan, um den auf eine halbe Milliarde Mark geschätzten Pillenmarkt in Japan aufzuknacken. Den größten Widerstand leisten nicht etwa prüde Sexfeinde in den Ministerien, sondern die 1-Milliarde-Mark schwere Kondomindustrie des Landes. (Schauen auch Sie einmal nach, in welchem Land Ihr Gummiteil hergestellt wurde?)
Viele Ausländer läßt die japanische Verhütungsdebatte perplex. Westliche Feministinnen schimpfen gerne über den japanischen Rückstand und müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß sie damit selbst bei den forschrittlichsten Japanerinnen auf taube Ohren stoßen. Das gewöhnlichste Argument für die Pille ist die japanische Abtreibungsrate — bei 400.000 im Jahr die höchste in der Welt. Japanische Frauen weisen den Zusammenhang jedoch zurück. Nach dem Motto: Wir sind froh, daß hier nicht die gleiche moralische Abtreibungsdebatte tobt wie im Westen.
Es liegt nahe, tiefgreifende Kulturunterschiede für die Pillen- ignoranz in Japan verantwortlich zu machen. Rollentrennung statt Romantik, Geschlechterdifferenz statt Gleichberechtigung: So lautete schon die Botschaft von Murasaki Shikibu, Hofdame der Kaiserin von Japan, die um das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung die „Geschichte vom Prinzen Genji“ schrieb. Folglich war die japanische Frauenbewegung im 20. Jahrhundert Luce Irigaray immer näher als Simone de Beauvoir. Diese Denktradition spricht noch heute für die höhere Ratio eines Kondoms, das eine gewisse Trennung auch dann noch kultiviert, wenn sie scheinbar aufgehoben ist. Die Pille erscheint dagegen als Instrument der Banalisierung, die den mühsam erreichten Fortschritt gesellschaftlicher Geschlechtertrennung wieder zunichte macht.
Selbstverständlich haben solche Überlegungen aus japanischer Sicht nichts mit Sexualfeindlichkeit zu tun. Es geht vielmehr um die Perfektionierung des Rituals: Das Überziehen des Kondoms erfordert eine letzte Geste des Mannes vor dem Geschlechtsakt und damit einen Beweis für seine Selbstkontrolle — die höchste Tugend der Samurai. Indem es den Koitus verzögert, nimmt das Kondom dem männlichen Begehren ein Stück seines Ungestüms. Lag es nicht immer im Wesen der japanischer Kultur, jeden Rest menschlicher Roheit durch das Ritual in Ästhetik zu verwandeln?
Jedenfalls verlangt das Kondom nach einer eigenen Ästhetik, die Pille nicht. Vielleicht erklärt das, weshalb das Verbot der Pille in Japan nie zu einem Rückgang der Promiskuität geführt hat und heute dreiviertel aller 17- bis 18jährigen Mädchen ein eigenes Sexualleben beanspruchen. Von ihnen würden die wenigsten die Pille nehmen. Die Pharmakonzerne sehen ihre Kundschaft vor allem unter verheirateten Frauen, die keine Kinder mehr bekommen wollen — und vermutlich längst nicht mehr genug Spaß am Sex haben, daß sie dabei die Rituale der Liebe pflegen würden. Georg Blume
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