■ Nebensachen aus Rio: Agrarreform auf brasilianisch
Endlich eine Agrarreform! Das klingt gut, das klingt nach Fortschritt. Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso enteignete am vergangenen Freitag mit einem Federstrich eine Million Hektar Land aus „sozialem Interesse“. In den nächsten vier Jahren, so kündigte er an, würden 280.000 Familien mit einem Stück Land versorgt.
Die sogenannte „Agrarreform“, die in Brasilien bis jetzt jedes zivile Staatsoberhaupt zu phantastischen Versprechungen inspirierte, entbehrt in der Praxis jeglicher revolutionärer Neigung. Genaugenommen ist die „Agrarreform“ schon seit zehn Jahren im Gange, nämlich seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1985. Tröpfchenweise wurden bisher 13 Millionen Hektar Land enteignet und an 265.000 Landwirte und ihre Familien umverteilt.
Dennoch bleibt die Konzentration von Großgrundbesitz in Brasilien enorm: Die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche wird von 1,2 Prozent der Landbesitzer kontrolliert. Drei Millionen Kleinbauern kämpfen auf Minischollen von durchschnittlich 3,1 Hektar täglich ums Überleben, und 4,8 Millionen Landlose kampieren schlicht unter schwarzen Plastikplanen am Straßenrand.
Trotz der großzügigen Versprechen Cardosos muß die Mehrheit der brasilianischen Großgrundbesitzer nicht um ihren Besitzstand fürchten. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Denn es gibt in Brasilien nicht nur die „Agrarreform“, sondern seit Februar 1993 auch ein „Agrarreformgesetz“.
Nach der Regelung müssen Latifundien seitdem nicht nur „produktiv“ sein, sondern außerdem eine „soziale Funktion“ erfüllen. Dies bedeutet, daß bei der Verwaltung der Ländereien zum Beispiel geltende Umweltschutzbestimmungen sowie Arbeitnehmerrechte eingehalten werden müssen. Sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse können theoretisch somit zur Enteignung des Latifundiums führen.
Die rechtlichen Grundlagen für die Enteignung von Großgrundbesitz wurden also enorm erweitert. Die Sache hat nur einen Haken: Die Lobby der Großgrundbesitzer im brasilianischen Parlament stimmte der Gesetzesvorlage damals nur unter der Bedingung zu, daß zunächst diejenigen Ländereien enteignet werden müssen, die im nationalen Maßstab am unproduktivsten sind. In der Praxis läuft dies darauf hinaus, daß die „Agrarreform“ im unzugänglichen Amazonasgebiet und im von Dürreperioden geplagten Nordosten beginnt und die wertvollen Grundstücke im Süden vorerst verschont bleiben.
Und tatsächlich: Von den rund eine Million Hektar, die am Freitag enteignet wurden, befinden sich nur 40.000 Hektar im Süden. Die Heere der Landlosen leben aber ebenfalls genau dort, der Großteil der enteigneten ungenützten Flächen liegt dagegen am Amazonas.
Die Kolonne derer ohne Scholle braucht sich auf ihrem Marsch gen Norden nicht zu beeilen. Denn in der brasilianischen Demokratie haben die Eigentümer selbstverständlich das Recht, gegen die Enteignung ihrer Ländereien vor Gericht zu gehen. Die sich über Jahre hinziehenden Verfahren stellen sicher, daß die „Agrarreform“ in Brasilien auch im Jahre 2000 noch im vollen Gange sein wird. Astrid Prange
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