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■ Nebensachen aus MoskauFrauen, Freiheit, Folkseigentum

Seit langem war hier nicht mehr die Rede vom Sex. Angeblich kannte die Sowjetunion keinen Sex. Jenes höchst ausgeklügelte System landläufiger Promiskuität und klassenloser Schlüpfrigkeit hatte keinen Namen. In der vorrevolutionären Literatur treffen wir vornehmlich auf Schöpfungen der Parthenogenese, danach auf den befruchtenden Pioniergeist der Partei. Mütterchen Rußland hütete gewissenhaft den Ruf, ein Unort der Geschlechtlichkeit zu sein.

Der Notwendigkeit ungehinderter Verkehrsregelung nahm sich einst die heißblütige Revolutionärin und Feministin Alexandra Kollontai an, die dieser Tage ihren 125. Geburtstag gefeiert hätte. Sie versprach dem Sowjetvolk, den Geschlechtsakt zu benennen und damit zu säkularisieren. Kollontai setzte sich für die rechtliche Anerkennung von Dreierehen plus N ein, plädierte für freie Liebe und lebte sie vor. Den führenden Genossen der ersten Stunde blieb ihr Verlangen suspekt. Die unteren Kader indes hatte ihre Theorie sofort ergriffen. So den Saratower Sowjet der Volkskommissare, der mittels Dekret die „Änderung des Privatbesitzes an Frauen“ verfügte. Das Dokument in Auszügen:

„Die gesetzliche Ehe verursachte bis in die jüngste Zeit zweifellos soziale Ungleichheiten, die in einer Sowjetrepublik möglichst rasch ausgeglichen werden müssen. Bis jetzt diente die gesetzliche Ehe als wirksame Waffe in den Händen der Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen das Proletariat, da alle besten Exemplare des schönen Geschlechts immer im Besitz bourgeoiser Imperialisten waren, so können die bisherigen Regeln der Fortdauer des Menschengeschlechts nicht gebrochen werden. Deshalb beschließt der Rat der Saratower Volkskommissare mit Zustimmung des Exekutivkomitees des Arbeiterrats des Gouvernements (...):

§ 1. Mit dem 1. Januar 1918 ändert sich das Recht des ständigen Besitzes an Frauen zwischen 17 und 30 Jahren.

§ 2. Dieses Dekret gilt nicht für verheiratete Frauen mit fünf oder mehr Kindern.

§ 3. Der frühere Eigentümer (Ehemann) behält das Recht zur Nutzung seiner Frau außer der Reihe. (Anmerkung: Im Falle von Zuwiderhandlungen des früheren Mannes gegen die Durchsetzung dieses Dekrets verliert er das ihm gemäß diesem Artikel zustehende Recht.)

§ 4. Alle Frauen, für die das Dekret gilt, gehen aus dem ständigen Privateigentum in den allgemeinen Besitz der Werktätigen über.

§ 5. Die Leitung der Zuteilung der enteigneten Frauen wird den Deputierten der Räte der zuständigen Kreise und Dörfer des Gouvernements übertragen.

§ 7. Bürgermänner haben das Recht, die Frauen nicht öfter als viermal in der Woche und nicht länger als drei Stunden zu nutzen, dies unter Beachtung der folgenden Paragraphen.

§ 8. Jedes Mitglied des werktätigen Volkes zahlt zwei Prozent seines Gehaltes in einen Fonds des Volksgeschlechts (der nationalen Familie) ab.

§ 9. Jeder Mann, der ein Exemplar dieses Volkseigetums zu nutzen wünscht, soll eine von einem Arbeiterwerkskomitee (...) ausgestellte Beglaubigung vorweisen, die seine Zugehörigkeit zur werktätigen Klasse bestätigt.

§ 10. Nicht der werktätigen Klasse angehörende Männer haben das Recht, die Dienste enteigneter Frauen einmal im Monat zu nutzen. Dafür leisten sie eine Zahlung von 1.000 Rubeln in den in 8. erwähnten Fonds.

§ 11. Alle Frauen, für welche das Dekret gilt, erhalten aus dem Volksgeschlechtsfonds eine Unterstützung in Höhe von 280 Rubeln im Monat.“ Klaus-Helge Donath

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