■ Nebensachen aus Madrid: Schmerzhafte Jungfrau
Nuestra Señora de los Dolores – die Heilige Jungfrau der Schmerzen – überkommt mit aller Regelmäßigkeit El Escorial, ein kleines Dorf bei Madrid. Seit 14 Jahren erscheint die Mutter Gottes jeden ersten Samstag im Monat der 57jährigen Hausfrau Amparo Cuevas und flüstert ihr Geheimnisse zu.
Stillschweigen ist Amparos Sache nicht. Längst zeichnet die Mutter von sieben Kindern ihre heimlichen Unterredungen mit der Heiligen Jungfrau auf Kassette auf. Über 10.000 Gläubige reisten Monat für Monat in Reisebussen aus dem In- und Ausland an, um den mittels riesiger Lautsprecheranlagen übertragenen göttlichen Unterredungen auf einer Wiese vor dem Ort zu lauschen.
Nur dem freigeistigen Bürgermeister Mariano Rodriguez wurde das Treiben zu bunt. Unterstützt von den sozialistischen und kommunistischen Gemeinderäten ließ er vor zwei Jahren kurzerhand den Ort gottesmütterlicher Erscheinungen einzäunen. Fortan stand das Naherholungsgebiet Prado Nuevo wieder ganz den Wochenendausflüglern zur Verfügung. Die Marienanbeter wichen in eine stillgelegte Molkerei aus, und im Dorf kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Daran hätte sich auch nichts geändert, hätte nicht im Mai die katholisch-konservative Partido Popular die Kommunalwahlen gewonnen.
Der neue Bürgermeister Javier de Miguel öffnete das Gelände erneut – und wieder strömen die Gläubigen. Wahlen verloren und jetzt auch noch der Bolzplatz weg, das war der Linken doch zuviel – eine Bürgerinitiative mit dem Klangvollen Namen „Zeichen der Freiheit“ wurde gegründet. Zeitgleich zum samstäglichen Marienkult geht's mit Kind und Kegel raus ins Grüne.
Grill und Musikanlage – groß genug für ein mittleres Open-air – gehören mit zur Grundausstattung. Es kommt, wie es kommen muß: Von der einen Seite tönen wattstark Choräle, von der anderen laden leicht beschwingte Rhythmen zum Tanz. „Ruhe! Wir beten!“ schreien die einen mit hochrotem Kopf – „Das wollen wir doch mal sehen, ob wir auf den Wiesen unseres Dorfes nicht mal mehr in Ruhe picknicken können!“ halten die anderen dagegen.
Dazwischen mehrere Hundertschaften Polizei, um Schlimmeres zu verhindern. Das nun kann die Heilige Jungfrau überhaupt nicht verknusen: Wie „die Römer, die uns Christen verfolgten“ seien die Protestierenden, ließ die Mutter Gottes wissen. Pure Geschäftemacherei stecke hinter dem ganzen Marienfirlefanz, so einer der Sprecher von „Zeichen der Freiheit“. Berauscht von den wundersamen Erscheinungen würden die Gläubigen die Klingelbeutel füllen.
Ein Blick ins Grundbuchamt des kleinen Ortes gibt ihm recht. Die vor neuen Jahren gegründete „Stiftung unserer wohltätigen Jungfrau der Schmerzen“ nennt mehrere Altersheime, unzählige Eigentumswohnungen, Bungalows und Ländereien ihr eigen. Selbst von Wahlbetrug ist die Rede. So sei der kleine Ort in den letzten drei Jahren von 6.916 auf 9.800 Einwohner angewachsen. „Scheinanmeldungen, um unseren Bürgermeister abzuwählen und die Rechte an die Macht zu bringen“, so ein erboster Freidenker.
Die so Beschuldigten schweigen sich aus. Anders als ihre Señora de los Dolores trauen ihre Jünger von der Stiftung der modernen Technik nicht. Telefonische Nachfragen zum Thema würden grundsätzlich nicht beantwortet, und per Fax ginge das auch nicht, klärt eine sonore Stimme am Telefon auf. Aber an ein Postfach könne man sich wenden. Bis heute hat die Stiftung nicht geantwortet – und auch die Mutter Gottes hat noch nicht von sich hören lassen, weder schriftlich noch auf Kassette. Reiner Wandler
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