: Nackt im Schnellzug nach Aberdeen Von Ralf Sotscheck
Acht Uhr morgens: Der Zug läuft gerade in den Hauptbahnhof von Aberdeen ein, als der junge Mann mit schwerem Kopf und ebensolcher Zunge aufwacht. Scheiße. In vier Stunden soll er heiraten – allerdings Hunderte von Kilometern südlich, in London. Wie er in den verdammten Zug gekommen ist, weiß er nicht. Es war eine typische „Stag Night“.
Die „Stag Night“, der Abschied vom Junggesellendasein, ist eine jüngere britische und irische Tradition, die manchmal schnurstracks in eine Katastrophe mündet. Ziel ist es, soviel zu trinken, daß man die Entlein auf dem Bierseidel schwimmen sieht, wie es der Schriftsteller Oliver St. John Gogarty einmal ausdrückte. Bevor der Bräutigam aber völlig das Bewußtsein verliert, tut man ihm noch etwas Gemeines an. Besonders beliebt ist der Brauch, ihn nackt an eine Laterne auf der Hauptstraße oder an den Zaun vor dem Rathaus anzuketten. Nicht immer geht es dabei glimpflich ab. In der vergangenen Woche kam es bei einer „Stag Party“ in Doncaster zu einer Rauferei mit den Einheimischen. Als dann Steine, Flaschen und sogar Bierfässer flogen, passierte es: Ein Lkw wollte den Wurfgeschossen ausweichen und überrollte zwei Partygäste.
Harry Ritchie schrieb im Guardian, daß „Männer in der Gruppe ohne den zivilisierenden Einfluß von Frauen zu fürchterlichen Wilden“ würden. So fiele ihnen für die „Stag Night“ nichts Besseres ein als das übliche Wochenendbesäufnis in potenzierter Form. Bestimmte Bräuche zum Vorabend der Hochzeit tauchen eigentlich nur in Überlieferungen aus dem schottischen Hochland auf: zum Beispiel das „Anschwärzen“, bei dem man das Opfer mit Maschinenöl – früher nahm man wohl andere unangenehme Substanzen – einschmiert und es in einen Fluß wirft. Schottland beweist nicht nur beim Junggesellenabschied Phantasie, sondern auch bei der Hochzeitszeremonie. Gretna Green ist als Paradies für Eheschließungen von Minderjährigen bekannt. Dabei gelten dort keine anderen Gesetze als im restlichen Schottland, aber es ist die erste Ortschaft hinter der englisch-schottischen Grenze.
Im Gegensatz zu England, wo strengere Regeln herrschen, ist man in Schottland seit 20 Jahren auch bei der Ortswahl für Trauungen recht liberal. So haben sich Paare am Strand, auf Berggipfeln oder im Anstoßkreis in der Halbzeitpause eines Fußballspiels von Dundee United vermählt. Man muß nur einen Pfaffen finden, der dabei mitmacht. Seit im April aber südlich der Grenze die Vorschriften gelockert wurden und sich der Kesselraum des Dampfschiffs „Great Britain“ als origineller Platz für englische Hochzeitsfeiern entpuppt hat, mußten sich die Schotten etwas einfallen lassen: In „Butlin's“ bei Ayr, einem eingezäunten Urlaubspark für Menschen, die hart im Nehmen sind, hat man die „Elvis-Presley-Kapelle der Liebe“ kirchlich weihen lassen. Dort kann man nun traditionell oder themengebunden heiraten. So gibt es die Rock'n'Roll- Version mit einem 57er Chevrolet als Hochzeitskutsche oder die Hochlandoption mit einem Dudelsackorchester. Den schottischen Dudelsack nennt man auch „War Pipes“. Vielleicht ist die Variante, nackt in den Zug nach Aberdeen geworfen zu werden, ja doch die beste Lösung.
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