: Nacht der Polizei in Kreuzberg
■ Polizei räumt bei Punk–Konzert „SO 36“ mit Tränengas und begibt sich auf die Jagd nach Kreuzberger „Ratten“ / Über 70 vorläufige Festnahmen von der Polizei bestätigt / Rache für die „Mai–Nacht“?
Aus Berlin Brigitte Fehrle
70 Festnahmen sind die Bilanz eines massiven, teilweise gespenstischen Polizeieinsatzes in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Am Rande eines Punk–Konzertes sei, so die offizielle Darstellung, ein Bauwagen in Brand gesteckt worden. Als die Feuerwehr beim Löschen behindert worden sei, habe die Polizei gegen 12.00 Uhr nachts eingegriffen. Die Auseinandersetzungen, an denen sich 200 bis 300 Leute beteiligt hätten, hätten Stunden gedauert. Beamte seien mit Steinen beworfen worden. Man sei mit Wasserwerfern und Tränengas vorgegangen. 600 Polizeibeamte waren in Einsatz. Augenzeugen berichteten, die Polizei habe das „SO 36“, in dem das Konzert stattfand, mit Tränengas geräumt. Der ganze Straßenzug sei dann abgeriegelt worden. Die Polizei fuhr mit Räumpanzerwagen und Wasserwerfern auf. Was sich dann abspielte, war ein Katz– und Mausspiel mit gänzlich ungleicher Rollenverteilung. Nur wenige Menschen seien noch auf den Straßen gewesen. Vereinzelt seien Barrikaden gebaut und angezündet worden. Die Polizei habe gezielt einzelne Leute mit Wasserwerfern durch die Straßen getrieben, mit Schlagstöcken verprügelt und festgenommen. Ein Augenzeuge berichtete, auf dem Ora nienplatz, habe ein Beamter vom Außenlautsprecher eines Panzerfahrzeuges aus gedroht, „von der Schußwaffe Gebrauch“ zu machen. Als die Leute weggerannt seien, habe die Stimme gelacht und gerufen: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.“ Die Polizei habe bis fünf Uhr morgens Leute auf den Straßen verhaftet. Bis zum Morgen waren es 70 Personen, größtenteils Jugendliche. Bis auf die Zahl der Festnahmen wollte die Polizei die Vorfälle in dieser Nacht nicht bestätigen. Das Verlaufsprotokoll ende gegen drei Uhr, hieß es lapidar. Festnahmen in dieser Höhe hat es in den letzten Jahren in Berlin nicht mehr gegeben. Selbst in der Nacht vom 1. Mai waren es insgesamt nur 23 Leute. Die Taktik der Polizei war es gewesen, „beweisfähige Festnahmen“ zu machen. Damit hat sich auch Landespolizeidirektor Kittlaus nach der Mai–Nacht für die geringe Zahl an Festnahmen gerechtfertigt. Offensichtlich hat die Polizei in der Nacht zum Sonntag in Kreuzberg ihre Taktik völlig verändert. „Abgreifen“, was zu kriegen ist, hieß die Strategie. „Rache für die Mai–Nacht“, vermuten die einen. Wahrscheinlicher ist, daß zu dem von der Polizei massenhaft gesammelten Foto–und Videomaterial der letzten Wochen die passenden lebendigen Exemplare gesucht wurden.
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