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■ NachschlagKindheit aus der Puppenkiste: Tanz-Winter im Hebbel Theater

Weit weg ist das Kind, das man selbst einmal war. Schaut man sich alte Familienfotos an, tritt diese Entfernung mit Erstaunen ins Bewußtsein. Von dem weit vorgerückten Punkt auf der Zeitachse, vom heute aus, scheinen Regina Baumgart (Choreographie) und Claudia Doderer (Bühnenbild) ihre Reise zurück in die Kindheit gestartet zu haben, die sie in den „Undinischen Winkel“ führt. Diese Metapher ist von der russischen Dichterin Marina Zwetajewa entlehnt, die damit die Erinnerung als Quelle der künstlerischen Inspiration beschrieb.

Doch die Kindheit bleibt an diesem Abend, was sie in der Kunst schon immer war: eine sehnsüchtige Erfindung der Erwachsenen, ein Mythos vom unverfälschten Anfang. Zurück zum Ursprung, zum selbstvergessenen Spiel, zum anderen Zeitmaß? Ach, es reicht nur zu artigen Genrebildern, die das Baumgart-Tanzensemble zur Klaviermusik von John Cage und Claude Debussy liefert. Cages einzeln in die Stille entlassene Töne verführen zu einem Setzen und Einfrieren der Bewegung als schönes Bild. So blättert man Seite um Seite in einem vertrauten Album um: Hier das Versteckspiel unter dem Tisch, dort die zusammengedrängelte Gruppe, hier die umgestürzten Möbel. Hübsch wird getanzt und sparsam, niedlich getollt und getobt. Der ansteigenden Wucht der Klänge Cages, die teilweise wie mit dem Gummihammer eingeschlagen wirken, entzieht sich die Choreographie. Die Tänzer verharren, als ob in ihrer Vorstellungskraft Bilder aufstiegen, die sich nicht in der Bewegung mitteilen lassen. So wirkt Cages „Four Walls“ wie ein Kostüm zum Hineinwachsen.

Skizzenhaft bleiben auch die Tänze zu Debussys „Children's Corner“. Wie im Tanz der Puppen, beliebter Topos des Kinderballetts, tauchen einzelne Figurinen auf – der Charakter der Bewegung ist schon durch das Kostüm vorgezeichnet. Zum Mittelpunkt des Abends aber wird der Flügel, an dem Daniel Seel spielt. Im ersten Teil noch am Rand der Bühne, die an eine spätsommerliche Terrasse erinnert, rückt er für Debussy ins Zentrum. Während des ersten Satzes der Suite steht Regina Baumgart, die zuvor in der Stille mit suchenden Gesten im Ungewissen tastete, nur neben dem Klavier, unter dem schon eine der Tanzfiguren hockt. Der Tanz nimmt sich zurück gegenüber der Präsenz der Musik, verblaßt zum Ornament an ihrem Rande.

Regina Baumgart, seit über zehn Jahren Choreographin in Berlin, muß sich nicht mehr beweisen. Ihre Verhaltenheit hat auch etwas wohltuend Distanziertes im Verhältnis zur oft angestrengten Produktion der Gefühle auf der Bühne. Doch leider schleicht sich in die vielen Momente des Innehaltens Langeweile ein. Katrin Bettina Müller

Heute im Hebbel Theater, Stresemannstraße 29, 20 Uhr

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