piwik no script img

■ NachschlagEin Brecht-Fragment als Radio-Collage im Literaturforum

Nein, Brecht verstand sie nicht. Die Börse. Die diffizilen Mechanismen des kapitalistischen Systems. Nicht weniger als das Stück über den Aufstieg des Kapitalismus sollte „Jae Fleischhacker in Chicago“ werden, und es blieb ein bis heute ungespieltes Fragment. „Ich gewann den Eindruck“, so schrieb ein erschöpfter Bertolt Brecht am Ende seiner Bemühungen, „daß die Getreidebörse unerklärlich ist.“ Und somit, so fand er, „unvernünftig auch“. Er beschloß, das Drama nicht zu schreiben und statt dessen Marx zu lesen.

Ein Fragment ist ein Fragment ist ein Fragment, jedenfalls nicht zur Aufführung bestimmt. Soll man es trotzdem aufführen? Vielleicht, wenn es gelingt, das Fragmentarische als werkimmanent und sozusagen stücknotwendig darzustellen. In diesem Fall hat Brecht es selbst getan, indem er sein Scheitern parabelartig so erhöhte: „Wenn man sieht, daß unsre heutige Welt nicht mehr ins Drama paßt, paßt das Drama auch nicht mehr in die Welt“, schreibt er an einer Stelle. Und das hat Ulrich Gerhardt in seiner Radiocollage zu jenem Brecht-Fragment, die am Donnerstag abend erstmals im Literaturforum des Brecht-Hauses zu hören war, eindrucksvoll geleistet.

Brechts Ringen um den diffizilen Börsenstoff ist ein Thema der Collage. Immer wieder werden Tagebucheintragungen eingestreut, in denen Brecht alles irgendwie erreichbare Material zu Börsenfragen zu verstehen versucht. Dann werden Teile des „Kapitals“ gelesen, volkswirtschaftliche Lehrbücher zitiert. Der eigentliche Stücktext kommt eher nebenbei daher, und wer das Stück vorher nicht gelesen hat, bekommt Probleme, der Handlung zu folgen. Es geht um Aufstieg und Fall des Getreidespekulanten Jae Fleischhacker, der glaubt, den Markt mit einfachen Tricks beherrschen zu können, dem aber aus dem dunklen Raum der Finanzhölle ein rätselhafter Gegenspieler erwächst. Parallel dazu wird die „Masse Mensch“ montiert, die in dem „Schlachtfeld der Großstadt“ ums Überleben kämpft und die durch ein unbedachtes Nebenprodukt des Getreidebörsenkampfes, die steigenden Brotpreise, nur allzu leicht ums Leben kommt. Gerhardt hat Musik, Talkshow-Mitschnitte und Nachrichtenaufnahmen von heute zusammengemischt und Börsenberichte immer wieder parallel zum Weltwetterbericht (Börse als Naturgewalt) geschnitten. Am Ende wird Kurt Weill gesungen: „The Heavenly Salvation“. Oder auch: Gott erlöse uns von der Börse. Volker Weidermann

Als Theaterstück wird „Joe Fleischhacker in Chicago“ heute abend am BE in der Inszenierung von Thomas Heise uraufgeführt

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen