■ Nachdenken über Rußland: Alleinherrscher Boris
Ist er nun noch Demokrat oder nicht? Oder war er es womöglich nie? Wer von der groß angekündigten Rede Jelzins eine Klärung dieser Fragen erwartet hatte, wurde enttäuscht. Es gab nur haufenweise Sprechblasen, Andeutungen und Widersprüche. Aber vielleicht muß man es auch so sehen: Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Immerhin kündigte er keinen neuen Krieg an, und gesund war er auch.
Den Eindruck der letzten Zeit konnte die Rede nicht verwischen. Der Demokratisierungsprozeß, zu dessen Synonym Jelzin im Westen stilisiert wurde, ist nicht nur ins Stocken geraten, sondern spätestens seit dem Einmarsch nach Grosny erkennbar mißraten. Zwar ist Rußland nicht mehr die Sowjetunion vor Gorbatschow, aber über das Stadium einer politischen Bananenrepublik auch nicht hinausgekommen. Ein labiler Alleinherrscher, umgeben von höchst suspekten Beratern, die Regierung und Parlament kaltstellen, ist keine demokratische Errungenschaft, sondern nur eine weitere Variante des traditionellen russischen Herrschaftssystems. Dazu gehört, den Bezug zur Stimmung in der Bevölkerung verloren zu haben, wie es seine – zumindest anfängliche – Fehleinschätzung des innenpolitischen Effekts des barbarischen Tschetschenien-Abenteuers zeigt. Dazu gehört die Mischung aus Dilettantismus und Brutalität in der Armeeführung, und dazu gehören auch die Versuche, die Medien gleichzuschalten.
Eine Demokratisierung und wirtschaftliche Reform Rußlands scheinen wie die Quadratur des Kreises. Jelzins jüngste Vorschläge für politische Reformen erwecken nicht den Eindruck von Konzeption, allenfalls von Behauptungswillen und einem Rest hilflosen Problembewußtseins. Monetaristische Versuche der Wirtschaftsreform sind, zum Glück für die meisten Betroffenen, gescheitert. Ihr jetziges Gegenteil mag notdürftig das Überleben sichern, ist aber auch das Gegenteil von Reform. Und sein Widerstand gegen eine Erhöhung der Mindestlöhne mag aus ökonomischen Gründen vernünftig sein, wird aber katastrophale soziale Folgen haben und tödlich für seine politische Zukunft sein.
Auch wenn der Präsident tapfer die Einhaltung des Wahltermins für 1996 ankündigt – angesichts seines Demokratieverständnisses und seines Prestigeverlusts sollte dieses Versprechen keinen Moment früher ernstgenommen werden als dann, wenn ein neuer Präsident für einen neuen Anlauf sein Amt antritt. Ein Demokrat allerdings wird wohl auch dies kaum sein. Rußland wird noch lange einen Sergej Kowaljow und eine Jelena Bonner benötigen. Reinhard Weißhuhn
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