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■ Nach der Veröffentlichung des „Berliner Appells“Seltsame Bettgenossen

Wer durch ein Glaskinn behindert ist, sollte den Boxring möglichst meiden. Jeremiaden über unfaire Behandlung seitens des Gegners, über den Verfall der Streitkultur etc. sind wirklich nervtötend. Dies um so mehr, wenn sie, wie im Fall der Unterzeichner des jüngsten „Berliner Appells“ (vergl. die Anzeige in der heutigen taz), von Persönlichkeiten kommen, denen in Form des Kirch-Springer-Konzerns eine nicht gerade unbedeutende Tribüne zur Verfügung steht.

Die Unterzeichner des „Berliner Appells“, beklagen, daß „konservative Intellektuelle, Journalisten und Politiker zunehmend ausgegrenzt und in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt werden“. Warum beherzigen sie nicht einfach die Maxime unseres Bundeskanzlers, „die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“! Schließlich sind sie es doch, die im Mainstream der nationalen Sinnstiftung navigieren, während die versprengten Reste der 68er nicht einmal in der Lage sind, sich von der Verantwortung für den rechten Terrorismus unserer Tage (ein beliebter Vorwurf von ihrer Seite) reinzuwaschen.

Aber statt dessen ist der „Berliner Appell“, in Anlehnung an die Rhetorik des antifaschistischen Kampfes, mit dem Aufruf „Wehret den Anfängen!“ übertitelt. Warum nicht gleich „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“? Sind die roten Schlägertrupps schon zu den Unterzeichnern unterwegs? Drohen Publikationsverbote? Und müssen sie schon fürchten, daß es nicht der „Demeter“-Milchmann ist, der im Morgengrauen an ihrer Haustür klingelt?

Natürlich ist es unappetitlich, mit ansehen zu müssen, wie diverse ehrliche Häute von Regine Hildebrandt bis Steffen Reiche sich an der Unkenntlichmachung des Falls Stolpe beteiligten. Natürlich ist diese Mischung aus Taktizismus und gußeisern-linken Überzeugungen, aufgrund derer etliche Grüne und Sozialdemokraten für die Koalition mit der PDS optieren, alarmierend. Jawohl, es gibt Versuche, vermittels Drohungen und Sprachregelungen eine Diskussion über den tonnenschweren Opportunismus zu verhindern, den alle etablierten Parteien seinerzeit gegenüber dem SED-Regime produzierten. Aber welcher boshafte Teufel hat den Unterzeichnern aus dem Lager der DDR-Bürgerbewegten eingeflüstert, ihre Frustration über die westlichen Linken auf eine so untaugliche, ja gefährliche Weise abzureagieren? Weit davon entfernt, einen provokativen Coup zu landen, haben sie sich nur in den Troß der nützlichen Idioten eingegliedert. Wahrhaftig, seltsame Bettgenossen, um ein weiteres (und nicht letztes) Mal Lenin zu zitieren. Christian Semler

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