Nach den Banken die Versicherungen: Selbstzerstörung
Der DAX erreicht den tiefsten Stand seit zwei Jahren. Und die AIG, eine der weltgrößten Versicherungen, steht am Rand des Ruins. Wie konnte es dazu kommen?
Nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers am Montag hat die Finanzkrise nun die nächste Eskalationsstufe erreicht: die Versicherungen. Am Dienstag kämpfte die American International Group (AIG), einer der größten Versicherungskonzerne der Welt, ums Überleben. Der Konzern, der 116.000 Mitarbeiter in 130 Ländern beschäftigt, geriet in den Strudel der US-Hypothekenkrise, weil er im großen Stil Investoren gegen Zahlungsausfälle bei Hypothekenanleihen versichert hatte. Diese Versicherungszusagen muss der Konzern nun einlösen - und braucht dafür dringend frisches Geld.
Die Lage der AIG ist ähnlich prekär wie bei den Pleitebanken Bear Stearns und Lehman Brothers. Seit Anfang September ist ihr Aktienkurs um 90 Prozent eingebrochen. Die Verluste der letzten drei Quartale betragen 18 Milliarden US-Dollar.
Anders als beim Lehman-Bankrott will die US-Regierung nun aber nicht länger tatenlos zusehen - aus Furcht vor den Auswirkungen einer AIG-Pleite für das Finanzsystem. Finanzminister Henry Paulson sagte am Dienstag, man arbeite an den nötigen Schritten, "um die Stabilität und Ordnung auf den Finanzmärkten zu erhalten". Die verbleibenden US-Investmentbanken J. P. Morgan Chase und Goldman Sachs bereiten unter Vermittlung der US-Notenbank nun einen Notkredit von bis zu 75 Milliarden US-Dollar für AIG vor, berichtet das Wall Street Journal.
Einen weiteren Schlag versetzten AIG die Ratingagenturen Moodys, Standard & Poors und Fitch, weil sie die Kreditwürdigkeit des Versicherungskonzerns um eine Stufe absenkten. Dadurch drohen dem Konzern weitere Finanzierungsschwierigkeiten: Kredite für frisches Geld verteuern sich für AIG, der Konzern muss mehr Sicherheiten bereitstellen, zudem können Geschäftspartner des Konzerns Verträge wegen des schlechteren Ratings vorzeitig kündigen.
Weltweit reagierten die Notenbanken am Dienstag alarmiert auf die AIG-Krise. Die Europäische Zentralbank, die Bank of England und die japanische Notenbank stellten den Banken allein am Dienstag 111,7 Milliarden Euro zusätzliche Liquidität zur Verfügung. Schon am Montag stellten sie 36,3 Milliarden Euro bereit.
Zum Verhängnis ist der AIG der riesige und weltweit nicht regulierte Markt für Kreditversicherungen geworden. Der Markt für Kreditderivate hatte im Jahr 2007 ein Volumen von 62.000 Milliarden US-Dollar. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sagte am Dienstag, eine stärkere und effektivere internationale Regulierung der Finanzmärkte sei dringend nötig. "Erkennbar ist der Markt alleine nicht in der Lage und befähigt, spekulative Zügellosigkeit mit einem selbstzerstörerischen Charakter zu verhindern oder einzudämmen", sagte Steinbrück.
Auch der "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger von der Universität Würzburg beklagt einen Mangel an Aufsicht: "Es ist sehr bedenklich, dass trotz der gewaltigen Expansion von Kreditversicherungen der Bereich sich selbst überlassen bleibt", sagte er der taz. Bei Lebensversicherungen wäre so ein Zustand undenkbar. Bofinger schlägt vor, das Modell zur Kreditsicherung der Schufa auf Banken auszudehnen. "Wir brauchen dringend ein weltweites Kreditregister, in dem alle Banken ihre großen Kreditpositionen melden müssen", fordert der Volkswirt.
Auch die Rolle der Ratingagenturen müsse überdacht werden. Bisher bewerten Firmen die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Ländern mit untransparenten mathematischen Modellen. An dem Urteil der privaten Unternehmen orientieren sich selbst Notenbanken und Regierungen. Jahrelang haben sie auch Hypothekenanleihen, die sich im Zuge der Immobilienkrise als wertlose Schrottpapiere herausstellten, mit Bestnoten bewertet. "Die Agenturen sehen sich ähnlich wie Journalisten und berufen sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung", sagt Bofinger.
"Es wäre jedoch zu einfach, die Ratingagenturen allein als Buhmänner hinzustellen", meint Gerhard Schick, der finanzpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. "Der Einfluss der Ratingagenturen ist aber auch so groß, weil die Politik sie gewähren ließ", sagt Schick. Die europäischen Staaten müssten deshalb für mehr Transparenz und einheitliche Bewertungsstandards auf den Finanzmärkten sorgen.
Peter Bofinger kritisiert zudem Interessenkonflikte bei den Ratingagenturen, weil diese oft von den Firmen bezahlt werden, deren Kreditwürdigkeit sie bewerten sollen. "Der Michelinführer wird ja auch nicht von den Restaurantbesitzern geschrieben", sagt Bofinger. Er schlägt deshalb vor, dass die Agenturen von den Anlegern finanziert werden sollen, die sich bei ihren Investitionen an den Ratings orientieren.
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