Nach den Anschlägen in Bombay: Aus Entsetzen wird Wut
Nicht viel mehr als zehn Terroristen sollen es gewesen sein. Wie eine Handvoll Terroristen ein derartiges Blutbad anrichten konnte, fragen immer mehr Menschen in Bombay.
Dutzende Demonstranten versammeln sich vor dem Taj-Mahal-Hotel in Bombay. Sie tragen Plakate und skandieren. Nervöse Polizisten in Nahkampfanzügen begleiten den Protestzug. "Setzt das System ab", schreien die Protestierenden auf Hindi. Auf einem Plakat steht: "Was ist schiefgelaufen?" Entsetzen und lähmende Lethargie verschwinden langsam aus Bombays Straßen, die Stadt überwindet ihren Schock. Doch nun bricht sich schiere Wut Bahn.
Viele Menschen können es nicht verstehen, wie eine Handvoll Terroristen vollkommen unbehelligt in Indiens Wirtschaftsmetropole eindringen, ein Blutbad anrichten und unzählige Geiseln nehmen konnten. Nach neuesten Erkenntnissen haben vielleicht sogar weniger als ein Dutzend junge Männer Anfang zwanzig das tagelange Terrorinferno entfacht.
Als erste Reaktion auf das mörderische Attentat mit 180 Toten reichte am Sonntag Indiens Innenminister Shivraj Patil seinen Rücktritt ein. Er wolle damit die "moralische Verantwortung übernehmen" für das, was geschehen ist. Patil stand in Indien schon lange in der Kritik. Indien hat dieses Jahr eine Reihe schwerster Anschlagsserien gesehen. Jedes Mal erklärte Patil, die Täter würden gestellt und bestraft, die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Jedes Mal folgte ein weiterer Terrorakt.
"In den USA hat es nach dem 11. September keine weitere Anschläge gegeben. Wieso bekommt Indien das nicht in den Griff?", sagt P. K. Subramanian. Der Mann Anfang vierzig, Glatze, Nickelbrille, blaues Hemd, stammt aus dem südindischen Kerala, arbeitet seit 12 Jahren in Bombay und wohnt ganz in der Nähe. Jetzt steht er vor dem Nariman House, wo bis zuletzt heftigste Gefechte getobt haben. Subramanian schüttelt ungläubig den Kopf.
In dem jüdischen Chabad-Lubavitch-Zentrum in dem Gebäude hatten sich bis zuletzt zwei Attentäter verschanzt und allen Angriffen durch paramilitärische "Black Cats"-Sondereinheiten getrotzt. Am Ende waren alle tot: die zwei Angreifer, der Rabbiner des Zentrums, Gavriel Holtzberg, seine Frau Rivka Holtzberg und sieben weitere Menschen, vermutlich alle Israelis.
Die Umgebung sieht aus, als hätte hier ein wochenlanger Häuserkampf getobt. Die Fassaden vieler Häuser sind zerschossen. Handgranatenexplosionen haben etliche Fensterscheiben zerrissen. "Es hätte mehr Schutz geben müssen", fährt Subramanian fort. Die Kontrollen in der Stadt seien zu lax gewesen. "Die Terroristen haben den maximalen Vorteil aus der schlechten Sicherheitslage gezogen."
Ein anderer Mann, der neben ihm steht, sagt: "Und wieder waren es Muslime. Die sind nicht loyal. Nicht loyal zu unserer Nation." Damit haben die Attentäter eines ihrer vermeintlichen Ziele erreicht: Der Riss zwischen Hindus und Muslimen vertieft sich weiter.
Vor dem schwer zerstörten jüdischen Glaubenszentrum steht Pooran Doshi. Er ist 47 Jahre alt, hat kurze Locken und trägt ein weißes T-Shirt. Er vertritt die Menschen aus dem Stadtteil als unabhängiger Politiker. Doshi hat die Kämpfe vom ersten Augenblick an miterlebt. Sein kleines, einstöckiges Haus liegt direkt vor dem Nariman House.
Am Mittwochabend um 22.30 Uhr, erzählt er, hätten die Attentäter aus zwei Häusern heraus in die Gassen des Viertels geschossen und Handgranaten geworfen. Dabei seien in den ersten Minuten mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben gekommen. "Ich saß in meinem Büro, gleich hier vorne, als die Schüsse begannen. Menschen sind aus den Gassen gerannt und haben geschrien."
Als die Polizei erst mehr als eine Stunde später in dem Viertel eintraf, richtete sie ihre Kommandozentrale neben dem Büro des Politikers ein. Doshi unterrichtete sie über den Stand der Dinge und zeichnete einen Lageplan des verwinkelten Stadtteils.
"Niemand hat gesehen, dass an dem Abend Männer in das Haus eingedrungen sind", sagt Doshi. Er vermutet, die Attentäter könnten bereits Tage zuvor ihre Geiseln genommen haben und hätten dann gewartet, dass ihre Komplizen in den anderen Teilen der Stadt ihr mörderisches Inferno entfachen. Als die Kämpfe vorbei waren, sei er mit dem Einsatzleiter in das Haus gegangen und habe die toten Geiseln und Terroristen gesehen, erzählt er dann. "Ein Körper war bereits vollkommen verwest. Der Mensch muss schon seit vier, fünf Tagen, vielleicht länger tot gewesen sein."
Für diese Theorie sprechen Berichte in indischen Tageszeitungen. Demnach sollen sich zwei der Attentäter bereits Tage vor den Anschlägen ein Zimmer im Taj-Mahal-Hotel genommen haben. In Zimmer 615 hätten sie ihr "Kommandozentrum" eingerichtet, bestätigen auch Polizeisprecher. Nach und nach hätten sie Waffen in das Luxushotel geschafft und sich einen genauen Überblick über das Gebäude verschafft. Auch deswegen behielten einige wenige Attentäter so lange die Oberhand gegenüber den Soldaten und Anti-Terror-Einheiten; sie kannten sich in dem Hotel bestens aus.
Zumindest beruhigt sich das diplomatische Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan ein wenig. Aus regierungsnahen Kreisen hieß es am Sonntag, Indien werde auf keinen Fall seine Truppen entlang der Grenze zu Pakistan verstärken. Davor hatte am Abend zuvor Pakistans Außenminister Shah Mehmood Qureshi gewarnt: Sollte Indien die Krise dazu nutzen, Pakistan militärisch zu bedrohen, würde Pakistan umgehend Truppen aus den Grenzgebieten zu Afghanistan abziehen und an die Grenze zu Indien verlegen. Immerhin kündigte er an, ein Vertreter des Geheimdienstes werde auf Anfrage nach Delhi kommen, um gemeinsame Ermittlungen zu koordinieren.
Unterdessen wird immer klarer, dass zumindest einige der Attentäter tatsächlich aus Pakistan stammen. Azam Amir Kasav, der einzige Attentäter, der überlebt hat, ist Pakistaner. Ein Nachrichtensender zeigt ein Foto des Satellitentelefons, das Kasav während der Terrorattacke bei sich gehabt haben soll. Auf der Anrufliste sind mehrere Nummern in Pakistan zu sehen, gewählt nach Beginn der Terrorattacke. Derzeit wird Kasav von der Polizei verhört.
Nun hängt es von der Besonnenheit der Politiker beider Länder ab, ob die Spannungen zwischen den beiden atomar bewaffneten Erzrivalen in den kommenden Tagen wieder zunehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu