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■ Nach dem MassenrauschJetzt das Sommerloch

Schon immer gab es gute Gründe, über die Sommermonate in der Stadt zu bleiben. Die Straßen waren leer, die Stimmung der Witterung angemessen, und auf den Dächern konnte man nach einer Flasche Wein den Sonnenuntergang ebenso schön finden wie an der Algarve. „Summer in the city“ war etwas wie ein gelassenes, städtisches Feeling, ein Kontrastprogramm zum Stop and go eines Urlaubstrips. Das ist in diesem Jahr anders. Statt Sommer, Sonne, Asphaltglut herrscht seit gestern Katerstimmung. Zwei Wochen lang war die Stadt in Ekstase. Der kollektive Tanz auf dem Vulkan, so durchschaubar und inszeniert er war, elektrisierte, schaffte eine knisternde, erotische Atmosphäre, die diese Stadt seit den Straßenschlachten der Achtziger nicht mehr gespürt hat. Das Recht auf Spaß hat sich – herkömmlich gesprochen – als Menschenrechtsbewegung formuliert, die ihre Rechte nicht einklagt, sondern sich ihr Recht nimmt. Eine anarchische Dynamik, die nicht nur frustrierte Altlinke mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, sondern auch die staatlich anerkannten Langweiler. Zwischen Politik und Lebensgefühl, so scheint es, sind die Welten unerreichbar groß geworden.

Fürs erste jedenfalls. Nach dem CSD, dem Reichstagspilgern und dem Massenrave droht nun der Fall ins Sommerloch. Nun beherrschen wieder Touristen aus Bottrop und die Gymnaestrada den Berliner Sommer. Anders als in den letzten Jahren fühlt man sich freilich aus einem Traum gerissen, der den Alltag in der Stadt nicht ungeschoren davonkommen läßt. Über allem Ernsten liegt nun eine heitere, ironische Distanz. Für unsere Volksvertreter haben wir künftig immer eine silbrige Zwangsjacke bereit. Und wenn nach dem Sommerloch der Wahlkampf droht, dröhnt die nächste Technoparty: 180 bpm wider den abtörnenden Ernst. Uwe Rada

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