■ Nach dem Hearing – Abschiebebeschluß für Kurden: Kanthers Erkenntnisse
Sieben Stunden lang ließ Deutschlands Innenminister Manfred Kanther Schilderungen aus einem anderen Land über sich ergehen, dann verkündete er, was er auch schon vorher zu wissen glaubte: eine Gruppenverfolgung von Kurden findet in der Türkei nicht statt. Von einer generellen Gefährdung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit könne nicht gesprochen werden, ergo steht Abschiebungen von Kurden in die Türkei seit dem 16. März nichts mehr im Wege. Außer einigen SPD-regierten Ländern, die aber über kurz oder lang werden nachgeben müssen.
Während in Bonn der Innenausschuß des Bundestages Sachverständige aus der Türkei und bundesdeutschen Organisationen anhörte, flimmerte zeitgleich die Realität aus Istanbul über die Fernsehschirme. Das Land befindet sich im latenten Bürgerkrieg, der nicht mehr auf die weit entfernten kurdischen Gebiete beschränkt ist, sondern plötzlich mitten in Istanbul aufflammt und sich in Ankara fortsetzt. Jeder Fernsehzuschauer kann sich ein Bild davon machen, wie Polizisten ohne Warnung in die Menge schießen und ihr Verständnis vom Umgang mit Minderheiten demonstrieren. Aber Kanther schaute ja nicht fern, Kanther saß im Innenausschuß. Die Experten, so sie überhaupt anreisen konnten und nicht gerade verhaftet worden waren, bestätigten ganz überwiegend, was sowieso jeder sehen konnte. Aber Kanther hat offenbar andere Erkenntnisse. Die haben zwar mit der Frage, ob Kurden nach einer Abschiebung ein rechtsstaatlich faires Verfahren erwarten können, nichts zu tun, aber sie basieren auf eigenen Erfahrungen. Kurden, so Kanther, tragen den in der Türkei ja gar nicht stattfindenden Bürgerkrieg nach Deutschland und haben deshalb hier nichts zu suchen. Wie Biedermann die Brandstifter fragte der deutsche Innenminister deshalb seinen türkischen Kollegen – denjenigen, der gerade das Vorgehen seiner wild schießenden Polizei in Istanbul als besonders besonnenes Verhalten gelobt hat – wie es denn so mit den Foltervorwürfen in türkischer Polizeihaft aussehe. Seitdem hat er seine Erkenntnisse schriftlich. Sollte sich z.B. einmal jemand beim Verhör verletzen, stehe ihm selbstverständlich ein Arzt zur Verfügung. Mit solchen Versicherungen kann Kanther sich freilich das Amtszimmer tapezieren. Die türkische Regierung hat sie im Dutzend abgegeben, auch die Bundesrepublik hat da einschlägige Erfahrungen aus den Auslieferungsverfahren nach dem Militärputsch Anfang der 80er Jahre, die eingestellt wurden, weil die türkischen Behörden sich nicht an ihre Zusagen hielten.
Jetzt wird also, passiere was wolle, abgeschoben. Zur Begründung zeigt der deutsche Verfassungsschutzchef noch schnell auf die PKK als Urheberin der Brandanschläge auf türkische Reisebüros. Das geht allerdings völlig daneben. Die PKK ist bestens organisiert und in der Lage, ihre Kader, wenn sie von Abschiebung bedroht sind, in ein SPD-regiertes Bundesland oder ins europäische Ausland zu bringen. Treffen wird es dagegen Kurden, deren Asylanträge nach Jahren abgelehnt wurden, die womöglich mit Familie seit Jahren in Deutschland leben und nicht einfach abtauchen können. Die werden nun einer türkischen Polizei ans Messer geliefert, die in jedem Kurden einen potentiellen Terroristen sieht und entsprechend mit ihm umgeht. Nachdem der Bundestag nicht gewillt oder nicht in der Lage war, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen, ist jetzt die Gesellschaft gefordert. Kirchenasyl ist eine Möglichkeit, der Phantasie sind aber keine Grenzen gesetzt. Jürgen Gottschlich
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