Nach Kopftuch-Urteil in Türkei: Verbot von Erdogans Partei erwartet
Studentinnen dürfen weiterhin kein Kopftuch tragen, urteilt das türkische Verfassungsgericht. Gut möglich, dass dem Urteil ein Verbot der Regierungspartei AKP folgen wird.
"411 Stimmen sorgen für Chaos", lautete im Februar eine aufgeregte Schlagzeile des Massenblatts Hürriyet. Mit dieser Stimmenmehrheit nämlich hatten die Abgeordneten tags zuvor eine Verfassungsänderung beschlossen, die es Studentinnen erlauben sollte, verhüllt Hochschulen und Universitäten zu besuchen. Nicht nur kemalistische Zeitungen und die Bürokratie kritisierten diese Entscheidung. Die linksnationalistische Oppositionspartei CHP rief das Verfassungsgericht an, und Millionen von Türkinnen und Türken gingen aus Angst vor einer schleichenden Islamisierung auf die Straße.
Sie können fürs Erste aufatmen: Neun Richter des Verfassungsgerichtes erklärten am Donnerstag die Verfassungsänderung für ungültig - was regierungsnahe Zeitungen mit der Schlagzeile "9 Stimmen für das Chaos" quittierten.
Dieselben Richter werden in den nächsten Monaten auch über Recep Tayyip Erdogans AKP zu entscheiden haben. Was von der Urteilsbegründung bisher durchsickerte, lässt auf ein kommendes Verbot schließen: Die Verhüllung an Hochschulen sei eine "eklatante Verletzung des Prinzips des Laizismus", sagten die Richter - die Verletzung eines der Prinzipien, deren Änderung laut Verfassung "nicht einmal vorgeschlagen werden" dürfe.
Erdogan sagte daraufhin alle Auslandsreisen ab und beriet sich über sechs Stunden lang mit seinem Parteivorstand. Das Urteil als "freiheitsfeindlich" anzuprangern überließ er seinem Stellvertreter Dengir Mir Mehmet Firat: "Die Richter verstoßen damit selbst gegen die Verfassung." Laut Verfassung dürfe das Gericht Gesetze nur auf verfahrenstechnische Fehler überprüfen, nicht aber über deren Inhalt richten - ein Argument, das im Vorfeld des Urteils oft zu hören gewesen war, danach aber so alt erschien wie die Zeitung von vorgestern.
Denn die politische Situation hat sich von einem Tag auf den anderen dramatisch zugespitzt. Klar wurde, dass die Gesellschaft tief gespalten und das Urteil die einen in Jubel und die anderen in Trauer stürzt. Klar wurde auch, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung sogar rollende Panzern begrüßen wird, falls die AKP keine Kompromisse mit den säkularen Kreisen suchen sollte. Dann scheint ein Militärputsch ebenso unabwendbar wie dessen Folgen: eine Verhaftungswelle gegen Islamisten jeden Grades, das Verbot ihrer Organisationen und eine Verschärfung der bestehenden Verfassung. Die Demokratisierung aber wäre bis auf Weiteres vertagt. Dass solche Putschpläne existieren, ist ein offenes Geheimnis.
Die Armeeführung hielt ihre Meinung nicht zurück. Die Generäle begrüßten das Urteil offen und einstimmig. Generalstabschef Yasar Büyükanit fügte hinzu, alle Verfassungsorgane der Türkei seien bereit, "die laizistische Grundordnung bis zum Letzten zu schützen".
Erdogan ist unentschlossen. Sein Kalkül, mit den Mächten der alten Republik hinter verschlossenen Türen etwa in der Kurdenfrage Kompromisse zu schließen, um sich in religiösen Dingen größeren Spielraum zu schaffen, geht offenbar nicht auf. Er hat mächtige Gegner jenseits der Armee: Der säkulare Arbeitgeberverband Tüsiad beklagt, dass alle lukrativen Staatsaufträge an AKP-nahe Firmen gehen. Die Linke und Gewerkschaften sind von der neoliberalen AKP-Politik enttäuscht. Intellektuelle und vor allem viele modern lebende Frauen fürchten iranische Verhältnisse. Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten wartet vergeblich auf eine Gleichstellung. Und nicht zuletzt fürchten die Kurden einen wachsenden Einfluss der AKP unter ihren Stammwählern im Südosten Anatoliens. So heterogen dieser Block ist, ist er doch viel zu mächtig, als dass die AKP ihn leichtfertig ignorieren könnte.
Ein Ausweg für Erdogan könnte darin liegen, schnell für umfassende Verfassungsreformen zu sorgen, in die die Kopftuchfreiheit eingebettet sein könnte. Da aber das Verfassungsgericht dazu befugt wäre, einzelne Punkte einer solchen Reform zu kassieren, müsste er zugleich die Kompetenzen des Gerichts beschneiden. Nach der Krisensitzung eilte Erdogan deshalb zu seinem Parteifreund, dem Parlamentspräsidenten Köksal Toptan. Der soll die Verfassungsänderung sozusagen parteiübergreifend vorschlagen und alle Parteien des Parlaments davon überzeugen.
"Die Regeln während des Spiels zu ändern ist ein zu gewagter Schritt, den sich Erdogan vorher sehr gut überlegen muss", warnen diplomatische Kreise indes in Ankara. Den Dialog mit den oppositionellen Gruppen halten sie für unerlässlich.
Eine andere Lösung wäre, erst einmal gar nichts zu unternehmen und das Verbotsurteil abzuwarten. Dann gründet die AKP ihre Nachfolgepartei, und Erdogan lässt sich durch Nachwahlen als unabhängiger Abgeordneter wählen. Da auf dem Sessel des Staatspräsidenten sein enger Freund Abdullah Gül sitzt, ist ihm der erneute Regierungsauftrag sicher. Dann könnte der lange Marsch der "moderaten Islamisten" weitergehen, bis die Richter nach und nach alle durch Gesinnungsfreunde ausgetauscht worden sind.
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