NRW-SPD-Spitzenkandidatin Kraft: Die letzte Hoffnung

Als es mit der SPD in NRW bergab ging, ging es mit Hannelore Kraft bergauf. Jetzt soll sie der Partei wieder zur Macht verhelfen.

Sie redet schnell, geht schnell, entscheidet schnell: Hannelore Kraft. Bild: dpa

Hannelore Kraft, 48, betritt forsch den Raum. Er ist hell und klein und heißt "Stoffwechsel". Verkauft werden Babysachen und Kinderkleidung, alles secondhand, ein Laden für arme Leute. Er liegt direkt neben der Arbeiterwohlfahrt in Moers am Niederrhein. Heute wird eröffnet. Der Bürgermeister ist da, Grußworte werden gesprochen. Die Lokalpresse macht Fotos, es gibt Kaffee und Schnittchen. Hannelore Kraft trägt Jeans, eine elegante Jacke, hochhackige Schuhe und eine Stola. Sie wirkt seriös, aber nicht zu sehr. Sie will Ministerpräsidentin werden, aber nicht abgehoben wirken. "Ich kann mit meiner Kleidung Akzente setzen. Das ist für Männer schwieriger", hat sie mal gesagt.

Die lokale Kandidatin der Linkspartei, eine korpulente Rentnerin, drückt der SPD-Chefin die Hand und sagt: "Wir können ja mal Kaffee trinken gehen." Das ist eine Anspielung - kürzlich haben sich ein SPD-Politiker und die Chefin der Linkspartei in NRW in einem Café getroffen, was Kraft schroff kritisierte. Keine Kontakte mit der Linkspartei bis zur Wahl am 9. Mai, heißt ihre Devise. "Ja, ja", sagt Hannelore Kraft knapp, "das sehe ich ganz locker", und geht rasch weiter. Sie wirkt sowieso schnell. Sie redet, anders als viele im Ruhrgebiet, schnell, geht schnell, entscheidet schnell.

Dieser Auftritt ist ein Wahlkampftermin. Einer von hunderten. Morgens hat sie sich die Wünsche niederrheinischer Kiesunternehmer angehört, später wird sie eine Schule besuchen, abends in lockerem Gespräch mit einem Ex-TV-Moderator den Genossen am Ort ihr Leben präsentieren. Kraft beherrscht solche Termine. Den Unternehmern hört sie aufmerksam zu, verspricht aber nichts. Im Secondhandladen fasst sie sich kurz, lobt, dass AWO, Caritas und Rotes Kreuz mal zusammen- statt gegeneinander arbeiten. Der örtliche CDU-Kandidat in Moers findet die SPD-Kandidatin "nett und tough". Sie habe ihm sogar "viel Glück" gewünscht. "Das hätte sie nicht machen müssen", meint er.

Wahrscheinlich ist Hannelore Kraft deswegen die letzte Hoffnung der SPD in NRW. Weil sie mit Leuten reden kann, egal mit wem. "Hannelore", sagt Arno Klare, "hat sich im Wahlkampf in den Neunzigerjahren nie hinter dem Infotisch versteckt wie andere." Klare ist Geschäftsführer der SPD in Mülheim, Krafts Heimatstadt. Er ist Ende 50, trägt Dreitagebart und Jeansjacke und ist einer der wenigen von Krafts Vertrauten. Wahrscheinlich kann man Hannelore Krafts rasanten Aufstieg und den Abstieg der SPD in NRW nicht ohne Mülheim verstehen, eine Stadt im Ruhrgebiet zwischen Essen und Duisburg.

Kraft stammt aus Dümpten, dem proletarischen Norden von Mülheim. Ihre Eltern waren Arbeiter, sie wurde in der Gathestraße groß, einen Steinwurf vom Ruhrschnellweg entfernt. Sie war die Erste in der Familie, die Abitur machte. Sie absolvierte eine Banklehre, studierte Wirtschaft, lernte vier Sprachen, und arbeitete in der Unternehmensberatung "Zenit". "Ich komme ja aus der Wirtschaft", sagt sie oft und gern, seit sie Politikerin ist. Das ist die halbe Wahrheit, Zenit wird vor allem vom Land NRW finanziert.

1994 trat sie in die SPD ein, einen Tag vor der Kommunalwahl, bei der das Unglaubliche geschah. Die SPD bekam nur 40 Prozent und verlor erstmal seit 1956 die absolute Mehrheit. "Ich glaube, ihr könnt mich jetzt gebrauchen", sagte sie damals. Sie - eine Gewinnerin der SPD-Bildungspolitik der 70er-Jahre - wollte sich dafür revanchieren. Die SPD war damals im Ruhrgebiet eine Partei von müden, alten Männern. Die Zeit des berüchtigten roten Filzes, in der Stadtverwaltungen, Partei und Gewerkschaften eigentlich identisch waren, ging zu Ende. Aber die SPD wollte den Zusammenbruch dieses quasifeudalen Systems nicht wahrhaben. Nach der Wahlniederlage setzte die SPD-Spitze in Mülheim missmutig einen Koalitionsvertrag auf und legte ihn den Grünen vor, mit dem Hinweis, sie sollten bitte unten rechts unterschreiben. So wurde Mülheim 1994 die erste Großstadt, in der CDU und Grüne regierten.

Mit der SPD ging es, beschleunigt durch Johannes Raus Abgang 1998, bergab, mit Hannelore Kraft bergauf. Sie war jung, redegewandt, sie war eine klassische Bildungsaufsteigerin, so wie Schröder und Steinmeier. 1999 wollte sie für die SPD in den Landtag. Klarer Favorit für das SPD-Ticket war der örtliche IG-Metall-Chef. Schon dass es mehrere Kandidaten gab, war für die SPD eher ungewöhnlich. Der IG-Metall-Mann hielt beim Unterbezirksparteitag eine laute, lange Rede, Kraft eine kurze, gute. Als das Wahlergebnis feststand, so Kraft, waren "die Delegierten so überrascht, dass mir niemand gratulierte. Es hatte keiner damit gerechnet." Sie allein gegen den Apparat, David gegen Goliath, so klingt es bei Kraft. Ulrich Dörr, damals ihr Gegner und noch immer IG-Metall-Chef in Mülheim, hat die Szene etwas prosaischer in Erinnerung. "Hannelore war schon immer sehr durchsetzungsfähig", sagt er.

Und Hannelore Kraft hatte einen Mentor in Mülheim: Thomas Schröer, den SPD-Chef. Schröer war schwul, gescheit und wusste, dass die SPD neue Gesichter brauchte. Und dass die Zeiten, in denen SPD-Granden wie Friedhelm Farthmann die Frauenquote mit Sätzen wie "Dat is Tittensozialismus" kommentierte, vorbei waren. Schröer starb 2007. Ob Kraft den Karrieresprung ohne ihn geschafft hätte? Wer weiß.

Kaum war sie 2000 im Landtag, kritisierte sie die ineffektive Fraktionsarbeit. Auch das war neu. Als der SPD-Europaminister, für NRW nicht untypisch, über ein Steuerdelikt stolperte, machte Ministerpräsident Wolfgang Clement sie zur Ministerin. Clement, der heute für die FDP wirbt, wurde ihr neuer Mentor.

Hannelore Kraft sitzt in einem neonhellen Büroraum im Jugendzentrum in Moers, es ist abends, halb elf. Sie hat den üblichen 13-Stunden-Tag absolviert, der Pressesprecherin fallen die Augen halb zu, ihr nicht. Sie hat Energie, das bescheinigen ihr alle. "Ich habe keine Vorbilder", sagt sie selbstbewusst. Sie stieg rasend schnell zur Landtagsabgeordneten, zur Europa- und dann zur Bildungsministerin, zur Fraktions- und Parteichefin auf. Nichts war, glaubt man ihrer Erzählung, geplant. Stets hat sie zuletzt davon erfahren, immer war sie am meisten überrascht. So ist sie wundersam die Karriereleiter hochgefallen. Auch 2005. Damals ventilierte eine Journalistenrunde, wer, falls die SPD die NRW-Wahl verliere, die Fraktion führen könnte. Die Journalisten meinten: nur Kraft. "Ich habe", sagt sie, "danach eine Nacht nicht geschlafen und überlegt, ob ich das kann." Als Fraktionschefin muss sie integrieren - und auch mal verbergen, wen sie achtet und wen nicht.

200.000 Mitglieder hatte 2003 die SPD zwischen Rhein und Ruhr, heute sind es noch 136.000 Genossen. Kraft hatte, was der ratlosen Partei fehlte. In manchem erinnert sie an Angela Merkel, die auch in der Krise ihrer Partei Karriere machte.

Kraft zählte zu einer diffusen Gruppe jüngerer Reformer, die die verfilzte Traditions-SPD durchlüften wollte. Aber, so Arno Klare, "eine andere Politik wollten die nicht, nur mehr innere Offenheit". Ihren Aufstieg verdankt sie sich selbst - und dem Zusammenbruch der morschen SPD in NRW. Aber wofür steht sie eigentlich? Vor Genossen wettert Kraft gern gegen prekäre Jobs. Unmöglich findet sie, dass "20 Prozent der Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich arbeiten", obwohl fast alle von ihnen eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Dafür bekommt sie Applaus, immer. Klare ist sicher, dass sie im Zweifel "immer auf der Seite der Arbeitnehmer" zu finden ist.

Die Verbreitung von Billigjobs hat nach 2002 Wolfgang Clement, Krafts Mentor, vorangetrieben. Lieber Billigjobs als Arbeitslose, so das Ziel. Der Niedriglohnsektor ist unter Rot-Grün explodiert. Von Kraft hört man kein kritisches Wort über Clement. "Wolfgang Clement wollte die Situation von Hartz-IV-Empfängern verbessern", sagt sie empört. Als Rüttgers längst Nachbesserungen forderte, verteidigte Kraft im Landtag eisern die Agendapolitik.

In dem Moerser Secondhandladen lobt sie die 1-Euro-Jobber, die bei der AWO arbeiten. Und kritisiert, dass sie dies nur ein paar Monate lang tun dürfen und danach wieder arbeitslos sind. Das ist ihr Lieblingsthema: der soziale Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose ohne Jobchancen. Deshalb hat sie dem Spiegel ein kurzes Interview gegeben, in dem sie empfahl, dass Hartz-IV-Empfänger "in Altenheimen Bücher vorlesen oder die Straßen sauber halten".

Es hagelte böse Schlagzeilen, in denen sie als SPD-Westerwelle auftauchte. Dabei hatte sie, so ihre Rechtfertigung, nur gesagt, dass 1-Euro Jobs auch langfristig sein können. Aber sie benutzte ähnliche Bilder wie Westerwelle. Außerdem erklärte sie im Spiegel, dass dies den Staat nichts kosten würde. Eine Woche später erklärte die SPD-Spitze in Berlin, dass 200.000 Stellen im sozialen Arbeitsmarkt 3 Milliarden Euro kosten werden. Solche Ungenauigkeiten kann man sich im Wahlkampf nicht leisten. "Sie ist eben nicht taktisch" sagt Arno Klare.

"Wenn ich mich von Medien erkennbar falsch behandelt fühle, reagiere ich dünnhäutig", sagt Kraft. Und das kann recht schnell passieren. Wenn ihr ein Kommentar missfällt, kann es vorkommen, dass sie sich persönlich beim Autor beschwert. Nutzen tut das nichts - im Gegenteil. Wenig spornt Journalisten mehr an als persönlich vorgetragene Klagen von Spitzenpolitikern. Über einen Text im Focus, in dem sie schlecht wegkam, redet sie mit atemlos frischer Aufregung, obwohl der Text vor eineinhalb Jahren erschien. Medien betrachtet Hannelore Kraft mit tief sitzenden Misstrauen, das in einem seltsamen Widerspruch zu ihrem Talent steht, offen auf andere zuzugehen. Eigene Fehler zu erkennen gehört nicht zu ihren ins Auge fallenden Tugenden. Im Zweifel sind eben die Medien schuld.

Vielleicht ist dieses Misstrauen der Preis ihres einsamen Aufstiegs. Die Riege ihrer Vertrauten ist klein. Hannelore Kraft will unbedingt die Kontrolle behalten über das Bild, das wir uns von ihr machen. Es soll ein Bild ohne Widersprüche sein. Das wird ihr nicht gelingen.

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