NÄCHTLICHES SCHIMPFEN : In der Ruhe gestört
Mitten in der Nacht reißt mich das Geschimpfe eines Typen aus dem Schlaf. Eigentlich wohne ich in einer ruhigen Gegend. Gut, manchmal kommen ein paar Besucher des K17 an unserem Haus vorbei. Und in zweihundert Metern gibt es eine Wikingerbar. Aber deren Publikum schafft es selten bis vor unser Fenster.
Es ist fast ein bisschen zu langweilig nördlich der Frankfurter Allee. Der Mann auf der Straße brüllt und brüllt. Es gibt sie also noch, echte Typen im Kiez. Ich lausche. „Mutter!“ – „Schwachkopf!“ – „Schnauze!“ sind die wenigen Fetzen, die ich mit Mühe verstehe. Ich vermag nicht mal einzuschätzen, ob es sich nicht sogar um zwei Streitende handelt oder ob hier – meine Vermutung – jemand allein mit sich und seinem Schicksal hadert.
In jedem Fall sind Frustration im Spiel und mehr Alkohol, als es einer klaren Aussprache zuträglich ist. Zu gern würde ich wissen, worum es geht. Ich erlebe ja sonst nicht mehr viel Aufregendes. Wahrscheinlich nur wird jemand aus der Nachbarschaft die Polizei verständigen, bevor ich Inhalt und möglichen Adressaten der Tirade ermittelt habe. „Mutter!“ – „Schwachkopf!“ – „Schnauze!“ Warum eigentlich wird meine Freundin nicht wach? Normalerweise genügt es, dass ich im Bett Zeitung lese, um sie am Schlafen zu hindern. Ich muss dann immer ins Wohnzimmer wechseln. Nun, bei tatsächlicher Ruhestörung, rührt sie sich nicht. Verstehe das, wer wolle. „Idiot!“ – „Bekloppt!“ – „Polizei!“ Aha. Das Thema wechselt. Schlauer bin ich immer noch nicht. Ich beschließe, ans Fenster zu schleichen. Vielleicht kann ich von dort aus mehr erfassen. Leise richte ich mich auf, schlage die Decke zur Seite, setze die Füße auf den Boden, erhebe mich vorsichtig. „Stephan! Was ist denn? Warum bist du denn so unruhig? Jetzt hast du mich geweckt“, ertönt vorwurfsvoll Melanies Stimme. Das Gezeter verstummt. Na toll. Ich werde die Wahrheit nie erfahren. STEPHAN SERIN