NACHTS IM WEDDING : Revier markieren
Ich habe ja schon viel mit angehört, nachts auf unserer Straße. Pärchenkräche etwa, die mit den Worten endeten: „Wir haben nichts, gar nichts! Nicht mal Kinder! Nur deine Scheißsauferei.“ Oder welche, unter Männern, die etwa so klangen: „Ich schlag dich behindert!“ Dann bewegen sich in den benachbarten Häusern die Vorhänge, irgendwer öffnet ein Fenster und mischt sich verbal ein. Oder ein paar Mutige gehen runter und bringen die Streitenden zur Raison. Wenn es ganz schlimm wird, ruft einer die Polizei. Aber das ist erst ein, zweimal passiert, seitdem ich hier wohne.
In dieser Nacht aber tönt etwas anderes durch die Straße. Es hört sich an wie Kinderstimmen. Kinderstimmen? Moment mal. Ein Blick auf die Uhr zeigt 2.30 Uhr. Ein bisschen spät, finde ich und wanke, in eine Decke gewickelt, zum Fenster. Unten auf der Straße steht eine Familie um ein Auto herum. Mutter dirigiert die beiden Kinder gen Haustür, Vater lädt Koffer aus Kofferraum. Urlaubsheimkehrer.
Ich atme die warme Nachtluft und gucke ihnen ein bisschen zu. Stelle mir ihren Urlaub in der Türkei vor. Das Meer, selbst gemachte Baklava, süße Melone und Kernweitspucken. Und den muffigen Zuhausegeruch der eigenen Wohnung, in der die letzten Wochen niemand war. Nicht einmal die Lieblingsstofftiere der Kinder, die haben sie unter den Arm gepresst.
Mutter und Kinder sind schon fast im Haus, der Vater pult noch immer am Kofferraum rum. Er raunt ihnen etwas zu. Dann stellt er sich zwischen zwei parkenden Autos auf, guckt sich einmal um und plötzlich plätschert es. Ziemlich laut, denn die Straße ist, wie gesagt, ein echter Schalltrichter. „Warum pisst der Mann nicht in sein Klo? Der wohnt doch gleich da“, frage ich mich. Offenbar laut, denn die Antwort kommt prompt: „Revier markieren“, murmelt mein Freund, dreht sich um und schläft weiter.KIRSTEN REINHARDT