NACHRUF: Ginzburg gestorben
Die Schriftstellerin war das Gewissen Italiens ■ Aus Rom Werner Raith
Sie war neben Leonardo Sciascia und Alberto Moravia so etwas wie das Gewissen der Nation: immer auf der Seite der Schwachen, der Sprachlosen, der Unterdrückten, nie auch nur einen Millimeter vom Pfad abzubringen, den sie schon in ihrer Jugend eingeschlagen hatte, als sie den Antifaschisten Leone Ginzburg heiratete, der später von den Faschisten verhaftet wurde und im Gefängnis starb. Sie focht gegen Rassismus und Willkür, gegen Gewalt und Unterdrückung.
Die ganz und gar unsentimental geschriebenen Werke der 1916 in Turin geborenen Schriftstellerin wurden nach dem Krieg zum Markenzeichen italienischer Literatur. Dazu zählen unter anderem: Alle unsere Jahre, 1952; Valentino, 1957; Die Stimmen des Abends, 1961; Mein Familienlexikon, 1963; L'inserzione, 1968; La strada che va in città, 1975.
Doch Natalia Ginzburg war mehr als nur eine Institution italienischen Kulturschaffens: Sie war auch ein Politikum in sich. Zweimal ließ sie sich ins Parlemant wählen (über die Kommunistische Liste, war dann aber stets Mitglied der linksunabhängigen Fraktion). Immer wieder erklärte sie, sie wolle kein politisches Amt bekleiden, nahm dann aber das Mandat doch mit zusammengebissenen Zähnen an: „Ich kann mich dem nicht entziehen, doch ich verliere nahezu alle Kraft zum Schreiben.“ 1990 trat sie noch einmal mit einem Werk an die öffentlichkeit, das monatelang die Nation aufwühlte: Serena Cruz o la vera giustizia. Es ging um den — im Jahr zuvor tatsächlich geschehenen — Fall eines kleinen philippinischen Mädchens, dessen Adoption unter rechtlichen Gesichtspunkten anfechtbar gewesen war. Darum entwickelte sich nun ein schamloses juristisches Hickhack, bei dem sich Dutzende von Advokaten und Richtern profilierten, das Kind aber kaputtging. Natalia Ginzburg ergriff Partei — die des Kindes, und damit auch bewußt gegen die geltenden Gesetze.
So geriet sie in einen Disput mit ihrem alten Mitstreiter Norberto Bobbio, dem ebenfalls aus Turin stammenden Politologie-Papst, der selbstverständlich auf der Seite des Rechts war. Natalia Ginzburg stand den Streit durch: „Ich kann das Recht nicht über den Menschen stellen.“ Bobbio gab ihr vor kurzem Recht: „Mitunter ist der Rechtsbruch das höhere Rechtsgut.“
Natalia Ginzburg machte sich auch als Übersetzerin der beiden französischen Schriftsteller Marcel Proust und Gustave Flaubert ins Italienische einen Namen. Ginzburg, deren Söhne Carlo und Andrea heute bekannte Hochschullehrer sind, starb am Dienstag an einem Tumor. Sie hat bis zuletzt noch an einer Guy- de-Maupassant-Übersetzung gearbeitet.
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