My Bloody Valentine sind wieder da: Wie Grautöne zu Sternenstaub werden
Nach 17 Jahren sind die legendären My Bloody Valentine zurück. Ein loses Ende der Musikgeschichte kann wieder aufgenommen werden: Bevor Britpop kam, feierten sie den reinen Sound.
Es muss furchtbar sein, vom pausbäckigen Mitschüler, der nie etwas sagt, verkloppt zu werden. Besonders, wenn man sich selbst etwas auf seine Großmäuligkeit und körperliche Stärke einbildet. So erging es britischen Gitarrenbands 1991: My Bloody Valentine brachten ihr zweites Album "Loveless" heraus und versetzen ihren vermeintlichen Mitstreitern unverhofft einen dumpfen Schlag, von dem sie sich nie ganz erholten. "Loveless" veränderte Hörgewohnheiten.
So konnten Gitarren also auch klingen: weder treibendes Rhythmusinstrument noch musikalisches Medium für Profilierungsgesten, sondern flirrendes Etwas, überwältigend produziert und doch nicht greifbar. Scheinbar zahllose Tonspuren legten sich übereinander, formten gezielte Dissonanzen, die sich zu tosendem Lärm verdichteten und gleichzeitig zerbrechlich blieben. Dazu der Gesang, der der Musik nicht übergeordnet, sondern in sie wie ein weiteres Instrument eingefügt war. Zwei dünne Stimmen, deren perfekte Harmonien zwischen dem Lärm durchschienen, von deren Texten aber bestenfalls Fragmente zu verstehen waren. "Loveless" betörte Fans, Kritiker und Musikerkollegen. Mehr, mehr, mehr wollte man davon hören und bekam: nichts. My Bloody Valentine hörten auf zu touren und veröffentlichten nie wieder eigenes Material. Was der prägende Sound der 1990er hätte werden können, blieb eine einzige Platte.
Die Band im Sommer 2008 spielen zu sehen, kommt einem ausgedehnten Schock gleich. Zum Abschluss ihrer ausverkauften Großbritannien-Tour in der vergangenen Woche stehen die vier Bandmitglieder auf der Bühne der Glasgower Konzerthalle Barrowland und schauen aus, als hätte es die 17-jährige Auszeit nie gegeben. Die Gesichtszüge von Sänger, Gitarrist und Mastermind Kevin Shields sind unverändert puttengleich pausbäckig, die Locken kinnlang und dunkelblond. Ähnlich von der Zeit unberührt Sängerin und Gitarristin Bilinda Butcher: am anderen Ende der Bühne stehend, bildet sie mit ihrer zierlichen Figur und den langen schwarzen Haaren den madonnenhaft strengen Kontrast zum verwuschelten Shields. Dazwischen, mit Plexiglas-Wänden vom Lärm der Gitarren abgeschirmt, Bassistin Debbie Googe und Drummer Colm OCiosoig, die als einzige körperlichen Einsatz zeigen und auf ihre Instrumente eindreschen. Die Lautstärke der Mittvierziger ist überwältigend, am Eingang werden Ohrstöpsel verteilt. Auch das hat sich seit 1991 nicht geändert.
Gerüchte, dass es doch noch einen Nachfolger für "Loveless" geben werde, waren seit Mitte der 1990er immer wieder aufgekommen - schließlich hatte sich der hauptsächlich fürs Songwriting verantwortliche Kevin Shields tatsächlich im Studio vergraben. Doch schon die Produktion von "Loveless " war eine Katastrophe gewesen. Über zwei Jahre gestreckt, hatte Perfektionist Shields die Produktionskosten auf eine Viertel Million Pfund hochgetrieben und ihr Plattenlabel "Creation" damit gerüchteweise in den Ruin. Der legendäre "Creation"-Chef Alan McGee feuerte die Band und machte sie für seinen Nervenzusammenbruch verantwortlich. Beim Label Island sollte die Band ein neues Zuhause finden. Doch auch dort türmten sich nur horrende Studiorechnungen auf, ohne in einer fertigen Platte zu münden. Entnervt kündigte auch Island der Band.
Als es im November 2007 schließlich wieder einmal hieß, My Bloody Valentine würden ihr neu-altes Material nun doch veröffentlichen, regierte gewohnheitsgemäß Skepsis - bis auf einmal Termine für eine Hand voll Konzerte in Großbritannien bekannt gegeben wurden. In den Fan-Internetforen breitete sich Chaos aus, verblüffte Ungläubigkeit verkehrte sich in helle Aufregung: Als es online die ersten Karten zu kaufen gab, brach der Server zusammen. Die ersten Konzerte in London, Manchester und Glasgow waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, anschließend wurde die Zahl der Termine verdoppelt, und noch immer rissen sich die Menschen um Karten. Prompt kamen mehrere Festivalauftritte von Roskilde bis Benicassim hinzu, zuletzt noch eine US-Tournee im Herbst und mit verdutztem Augenreiben musste man feststellen: My Bloody Valentine waren aus dem Nichts zurück.
"Wir werden 100-prozentig ein weiteres Album machen", sagte Shields 2007 dem amerikanischen Indie-Magazin Magnet in einem seiner seltenen Interviews. Die neue Platte sei nun zu drei Vierteln fertig. "Ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich kein weiteres Album machte. Mist, das wäre doch so, als würden die Leute nur die ersten zwei Kapitel bekommen. Aber der Rest ist der beste Teil. Es ist einfach nur so, dass ich ungewöhnlich viel Zeit gebraucht habe, um das zustande zu bekommen." Gerüchteweise lag die verschleppte Produktion des dritten Albums vor allem an den massiven psychischen Problemen, die Shields geplagt haben sollen. In jedem Fall arbeitete er nach dem Island-Debakel nur sporadisch als Produzent und fertigte eine Hand voll Remixe an. Echte musikalische Lebenszeichen waren erst die vier neuen Stücke, die er 2004 für den Soundtrack von Sofia Coppolas "Lost in Translation" einspielte. Als Begründung, warum es so lang mit neuem Material dauerte, sagte er gegenüber Magnet: "Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ein weiteres Album zu machen, solange ich nicht davon begeistert war. Vielleicht war es Schicksal oder so, in jedem Fall passierte es einfach nicht."
So einzigartig der My-Bloody-Valentine.-Sound auch war, so oft wurde er doch kopiert. Unter der Bezeichnung "Shoegaze" - einer Reminiszenz sowohl an das konzentrierte Starren auf die Effektpedale am Boden, die bei Konzerten neben den Gitarren bedient werden wollten, als auch an die schüchtern-verspulte Art der Musiker - sammelten sich Bands wie Curve, Ride oder Slowdive und genossen, solange der unmittelbare Hype um "Loveless" anhielt, einen gewissen Erfolg. Wirklich eigene Klänge konnten sie dem vermeintlichen Genre aber nicht hinzufügen.
Auch My Bloody Valentines wegweisende Bandstruktur mit geschlechtsparitätischer Besetzung und zwei gleichberechtigten Sängern blieb folgenlos. Kurze Zeit später türmte sich die Britpop-Welle auf und spülte retrolastige Bands mit grölenden Lads als Bandleader hoch, Alan McGee entdeckte Oasis und konnte das angeschlagene "Creation" von Grund auf sanieren. Das zarte wie monströse Erbe von My Bloody Valentine schien verschüttet zu sein.
Erst in den letzten drei, vier Jahren haben Gitarrenbands wieder den Lärm für sich entdeckt. Als Antithese zum exakt produzierten und rhythmisch durchkalkulierten Postpunk zerlegen Acts wie die New Yorker Animal Collective oder A Place to Bury Strangers Songs wieder in Soundflächen. Statt auf musikalische Pointen zuzusteuern, vergraben sie sich in vertrackten Strukturexperimenten. Dass das nicht zwingend ins Noise-Gewitter ausufern muss, zeigten zuletzt No Age. Das Duo aus L.A. brachte mit "Nouns" im Mai eine wunderschöne Platte voller dröhnender, aber auch sehr knapper Songfragmente heraus.
In einer seltsamen historischen Volte kommt es einem daher plötzlich sehr zeitgemäß vor, My Bloody Valentine wieder live zu sehen. Entsprechend jung ist auch das Publikum beim Abschlusskonzert in Glasgow. Für jeden Langzeitfan gibt es mindestens einen Neugierigen, der sich ohne nostalgische Anwandlungen auf die Musik stürzt. Das Durchschnittsalter ist eher unter als über 30 Jahre. Spätestens jetzt ist klar: Bei My Bloody Valentines Comeback geht es nicht um das Abfeiern vergangenen Ruhmes, sondern um einen Übergangsritus in eine neue Zeit.
Noch ist aber beim Liveset kein neues Material dabei, zu fast gleichen Teilen spielt die Band Stücke von "Loveless" und ihrem Debüt-Album "Isnt Anything", das die klassischer aufgebauten Lieder enthält. Krachigere Rockstücke wie "You never should" wechseln sich so mit den flirrenden Loops von "Blown a wish" ab. Die Brüche sind hart und stehen quer zur organischen Einheit, die "Loveless" bildet. Erst mit dem Schlussstück sprengen My Bloody Valentine die Grenzen eines herkömmlichen Konzerts. Schon auf Platte enthält "You made me realise" 40 Sekunden puren Lärms. Live dehnen sie die Passage ins Unendliche aus, bis Magen und Herz gemeinsam mit dem Stroboskop flattern. Nach einer Viertelstunde nickt Shields kurz, dann führt die Band das Stück wieder zum Refrain zusammen. Doch dessen Melodie kommt einem nach den Gitarrenexzessen unerträglich harmonisch vor. Gleichermaßen erleichtert wie euphorisiert verlässt man das Konzert. Fast ist man wunschlos glücklich. Nur das dritte Album, das muss es endlich bald geben.
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