■ Mutmaßlicher Allgäuer Mafia-Chef vor Gericht: „Fisch“, der sich bezahlt machte
Kempten (taz) – Seit Wochen wird in einer neuen Staffel der sogenannten Mafia-Prozesse vor dem Landgericht Kempten gegen die „kleineren Fische“ der Allgäuer Mafia-Szene verhandelt. Seit gestern nun steht der „Pate“ selbst vor seinen Richtern. Zumindest die Staatsanwaltschaft hält es für erwiesen, daß der inzwischen 37jährige Vito S. der Nachfolger des 1989 geschnappten Salvatore Salamone ist, der längst an Italien ausgeliefert wurde. Vito S. wurde von den Italienern im Allgäu stets als Mitglied der berüchtigten Mafia-Familie Santangelo betrachtet und mit entsprechendem Respekt behandelt. Er stammt aus dem 34.000-Einwohner-Städtchen Adrano am Fuße des Ätna. Bekannt ist die Gegend um Adrano auch als „Todesdreieck“. Das liegt daran, daß in der Kleinstadt bei Auseinandersetzungen rivalisierender Clans mehr Menschen getötet wurden als in Palermo. Allein 1989 wurden 110 Morde gezählt.
Das Allgäu hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Rückzugsraum für in Italien verfolgte Mafiosi und zu einer regelrechten Drogendrehscheibe entwickelt, heißt es im bayerischen Landeskriminalamt. Nach mehreren Großrazzien war laut Anklageschrift die Kokainszene im Allgäu führungslos geworden. Von seiner Pizzeria aus soll Vito S. die Weichen für den Drogenhandel mit Amsterdam, Hannover, Belgien und Italien neu gestellt haben.
Nach einer ersten Verhaftungswelle 1989, das Jahr, in dem in Memmingen dem Frauenarzt Horst Theissen der Prozeß gemacht wurde, kristallisierte sich diese Region als neue Mafia- Hochburg heraus. Gründe dafür sind einmal in den nahen Grenzen und wohl auch in der Tatsache zu sehen, daß Ende der sechziger Jahre an die hundert Männer aus der Gegend um Adrano als „Gastarbeiter“ nach Kempten kamen. Sehr schnell folgten den Arbeitern auch die Mafiosi, die laut Staatsanwaltschaft mit Schutzgelderpressungen, Entführungen sowie Waffen- und Drogenhandel gute Geschäfte machten. Kleindealer und Endabnehmer wurden von Memmingen und Kempten aus mit Kokain beliefert, das unter so harmlos klingenden Namen wie „Fisch“, „Cassette“, „Brieftasche“ oder auch „Amare Vino“ an den Mann gebracht wurde.
Doch Geldfälschung im großen Stil – Dollar-Blüten im Wert von 1,2 Millionen Dollar wurden sichergestellt – gehörte ebenso zum täglichen Geschäft von Vito S. und seinen Komplizen wie bezahlte Einschüchterung und ein Banküberfall (Beute 49.205 DM), sagen die Ermittler. Schlimmer noch: Laut Anklageschrift war bereits die Hälfte eines 20.000-Mark-Honorars ausgezahlt worden für eine außerordentlich brutale „Strafaktion“. Ein gehörnter Ehemann hatte über Mittelsmänner Vito S. und seine Kumpane damit beauftragt, seine Gattin wegen deren Untreue „nach sizilianischer Art“ auf Dauer zu entstellen. Daß ihr dieses Schicksal erspart blieb, hat die Frau nur der Tatsache zu verdanken, daß das Vorhaben durch eine polizeiliche Durchsuchungsaktion vorzeitig aufflog. Ähnliches gilt für eine Einschüchterungsaktion bei einem Gastwirt, der mit nicht näher bezeichneten Zahlungen in Verzug geraten war.
Im November 1991 war für Vito S. das Dasein als „Allgäu-Pate“ beendet. Auf dem Rückweg von Holland wurde er zusammen mit einem Komplizen und 200 Gramm Kokain im Gepäck in Ulm geschnappt. Vito S., der der gestrigen Verhandlung in Fußfesseln ausgesetzt war, nahm zu den Vorwürfen selbst nicht Stellung. Vielmehr schilderte er sich selbst als hochverschuldeten (130.000 DM) und kokainabhängigen Kleinkriminellen mit Hang zur Reue. Klaus Wittmann
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