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Archiv-Artikel

Muss der Staat das Radfahren belohnen?JA

VERKEHR Durch die Erderwärmung drohen Katastrophen. Menschen, die klimafreundlich leben, könnte der Staat mehr unterstützen

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Marina Weisband, 24, ist Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei

Wenn der Staat das Radfahren fördert, werden unsere Städte sozialer und umweltfreundlicher. In meiner Stadt Münster gibt es verkehrsrechtliche Bevorzugungen für Radfahrer, um das Fahren sicherer und angenehmer zu machen. Hier fahren fast alle mit dem Rad. Die Stadt ist sauberer und der Verkehr ist entlastet. Die Menschen sehen einander auf der Straße direkter und interagieren mehr. Der Berliner Fraktionschef der Piraten hat auf den ihm zustehenden Dienstwagen verzichtet, stattdessen hat die 15-köpfige Piraten-Fraktion Dienstfahrräder angefordert. Sogar mit den ebenfalls angeforderten ÖPNV-Tickets für kalten Winter spart Berlin dadurch viel Geld. Und jeder der Abgeordneten bekommt eine Fortbewegungsmöglichkeit, das ist sozialer als ein einzelnes Auto. Ein Politiker auf einem Rad bleibt bodenständig und nimmt sowohl seine Stadt als auch seine Mitmenschen bewusster wahr. Ich hoffe, dass noch viele Politiker diesem Beispiel folgen.

Arturas Zuokas, 43, fährt Rad, ist Bürgermeister im litauischen Vilnius und mag Panzer

Ohne jeden Zweifel muss der Staat Radfahrer unterstützen. Meine auf Youtube berühmt gewordene Kampagne, bei der ich mit einem Panzer über ein falsch parkendes Auto gefahren bin, sollte klar machen: In Vilnius darf man nicht einfach die Regeln missachten, nur weil man sich ein teures Auto leisten kann. Für mich gab es keinen direkteren Weg, meine Botschaft zu überbringen, als mit einem Panzer einen Mercedes platt zu walzen. Das Motto: Wenn du die Rechte anderer beschneidest, dann beschneiden wir deine. Im November haben wir dann Aufkleber mit der Aufschrift „Pass auf, oder ich hole den Panzer“ verteilt. Die können auf der ganzen Welt auf falsch geparkte Autos geklebt werden. Schließlich ist es ziemlich schwierig, ein auf dem Radweg abgestelltes Auto mit dem Fahrrad platt zu machen. Wir haben den Bürgern von Vilnius und unseren Gästen Elektroräder zur Verfügung gestellt, um mit ihnen die Altstadt zu erkunden. Vilnius ist die erste Stadt in Europa, die solche Fahrräder vermietet.

Doris Neuschäfer, 50, ist Vize-Chefin beim Verkehrsclub Deutschland VCD

Der Staat sollte aktiv fördern, was aus Klima- und auch aus sozialer Sicht positive Auswirkungen hat – und dazu gehört das Radfahren. Im Bereich der Mobilität erleben wir bisher noch oft das Gegenteil. Ein Beispiel: die Abwrackprämie – teuer, unsozial und aus Klimasicht zweifelhaft. Stattdessen hätten Fahrradneukäufe subventioniert und mehr Geld in die Radinfrastruktur gesteckt werden können. Studien zeigen, dass die Menschen motiviert sind, mehr Rad zu fahren. Sie tun es nur häufig nicht, weil die Infrastruktur zu schlecht ist. Daher ist eine bessere Rad-Infrastruktur nötig, Handlungsbedarf besteht bei Radwegen und Abstellanlagen. Dabei geht es nicht um Unsummen: Wir reden von bundesweit wenigen Euro pro Kopf und Jahr für den Radverkehr. Die deutsche Politik sollte eine Imagekampagne fürs klimafreundliche Fahrradfahren anstoßen. Die Abgeordneten selbst sollten, statt stets in spritfressenden Dienstwagen vorzufahren, das Rad nehmen.

Gunda Werner-Burggraf, 40, ist Theologin aus Bonn und kommentierte auf taz.de

Radfahrende sind Verkehrsteilnehmende. Sie gehören auf Straßen mit Fahrradstreifen, die breit genug und abgegrenzt sind. Viele Radfahrende legen genauso viele oder mehr Kilometer zurück als andere – und das unter Bedingungen, die Automobilclubs für ihre Klientel nicht zulassen würden. Es braucht Pläne für Wege und die Weiterbildung von Autofahrenden. Ja, ein Radstreifen ist ein Radstreifen ist ein Radstreifen! Wir brauchen Belohnungen für die, die weder die Umwelt belasten noch ihre Gesundheit schädigen. Wieso kann ein Rad nicht als Dienstfahrzeug abgesetzt werden? Ebenso Reparaturen und Ersatzteile. Ein Fahrrad-Verkehrskonzept beinhaltet wenigstens die finanzielle Gleichstellung zum Autofahrenden, aber auch funktionierende Bahnen mit Fahrradtransport, sinnvolle Radwege, gute Fahrradständer, sichere Räder.

Wegen der starken Resonanz auf taz.de hier noch weitere Stimmen von LeserInnen

Radfahrer Tom bekäme gern „nicht nur staatliche Belobigung, sondern Schmerzensgeld zugesprochen. Schließlich rette ich den Planeten, den andere ruinieren.“ Dhimmitry hat schon konkrete Ideen: „Analog zum Betreuungsgeld für Eltern, die keine Kinderkrippen nutzen, sollte jede Bürgerin und jeder Bürger, der auf ein Auto verzichtet, eine Muskelkraft-Fortbewegungs-Prämie erhalten.“ Uli Mandel ist für die „steuerliche Absetzbarkeit der Anschaffungskosten eines Fahrrads“. Motivationsschilder wie „Danke, dass du heute mit dem Rad fährst!“ oder „Du schaffst das!“ könnte sich Jan U. gut vorstellen. Lles will sich gegen die Autofahrer behaupten und fordert ein „Verbot der Verbote: Radfahrer sollen auch über Rot fahren dürfen.“ Carkiller Champion findet, der Staat „muss die Dekadenz des Autofahrens verbieten.“ Stephan Mirwalt glaubt jedoch: „Die Politiker sind doch alle von der Autoindustrie geschmiert. Von denen kann man nichts erwarten.“

NEIN

Matthias Wissmann, 62, ist Präsident des Verbandes der Automobilindustrie VDA

Häufig werde ich gefragt, ob ich auch das Fahrrad nutze. Meine Antwort lautet: Ja, und das wohl öfter, als es so mancher denken würde. Für mich sind Auto und Rad kein Widerspruch. Das Beispiel Berlin-Mitte zeigt, wie es gehen kann: Bus, Auto und Rad, sogar Pferdekutschen teilen sich die Straße. Allerdings gilt das nicht für die gesamte Stadt. Für ein vernünftiges Miteinander braucht man Platz für Zweiräder – und genügend Parkraum für Autos. Radfahrer werden bereits belohnt durch massiven Ausbau der Radwege. Das ist richtig und sehr erfreulich – aber auch bezahlt aus den jährlich 50 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben der Autofahrer. Eine gute Verkehrspolitik berücksichtigt, dass unsere immer verbrauchsärmeren Fahrzeuge einen erheblichen Umweltbeitrag leisten. Eine Politik, die den Autoverkehr einschränkt, führt nur zu mehr Staus, längerer Parkplatzsuche und höherem Verbrauch. Sinnvoll sind alle Maßnahmen für Auto, Rad, Bus oder Bahn, die den Verkehr weiter entzerren und damit dem Klima nutzen.

Peter Kusenberg, 43, ist Journalist aus Bremen und kommentierte auf taz.de

Die Frage nach der Förderung des Radverkehrs ähnelt der Frage nach der Förderung jüdischer Jazzmusik multiethnischer Lesben-Combos im Völkischen Beobachter anno 1938. Wir leben in einer Autodiktatur, die maximal als völlig unernstes Gedankenspiel in Frage gestellt werden darf. Der Autoverkehr ist das Falscheste im Falschen – außer für die Daimler-Aktionäre, die Merkel sagen, wo sie achtspurige Autobahnen bauen solle. Der Pöbel wiederum verzichtete eher auf Bahn und Trinkwasser als aufs tägliche Brummbrumm. Das wird sich nicht ändern, denn das Brummbrumm ist ökonomisch, ideologisch und politisch festgeschrieben. Die einstige Radfahrerpartei Die Grünen ist heute eine Hybrid-Motor-Autopartei, und die Studenten in Münster steigen nach bestandenem Bachelor aufs Auto um. Beim Ausbruch eines Atomkriegs werden sich die Deutschen zunächst um die Unversehrtheit des Autolacks sorgen. Und dann fahren sie alle mit ihren SUVs in die Hölle.

Bernd Irrgang, 66, ist Vorsitzender des Bundes der Fußgänger e. V.

Im rekordverdächtigen Drang zur fahrradfreundlichsten Stadt Deutschlands überbieten sich die Kommunen bereits in Radler-Belohnungen mit steuerfinanzierten Radwegen, Fahren gegen die Einbahnrichtung und kostenlosen Abstellplätzen. Wenn neunzig Prozent der Radler Verkehrsregeln missachten, dann darf der Staat diese Gesetzlosigkeit nicht noch belohnen, sondern Ordnungsorgane sollten die zu Fuß gehende Mehrheit der Bevölkerung schützen. In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist es inakzeptabel, dass speziell Senioren und Behinderte wegen anarchistischer Pedalritter auf ihren letzten Freiflächen gefährdet werden und sich verängstigt an Hauswände drücken. Eine halbwegs ökologische Fortbewegungsart darf nicht zum Freibrief regelwidrigen Verhaltens verkommen. Da die gehätschelten Radler ihr sperriges Gefährt noch in öffentlich geförderten Verkehrsmitteln ohne Zuzahlung transportieren dürfen, sind sie schon genug belohnt.

Jörg Bode, 41, FDP, Vize-Regierungschef und Verkehrsminister von Niedersachsen

Belohnen? Sprich: Steuererleichterungen für Radfahrer, Bonusmeilen, kostenlose Fahrräder für alle (oder nur einige), eine negative Maut? Wer Rad fährt, belohnt sich doch schon selbst. Sie oder er tut was für die Gesundheit, für die Umwelt und schont den Geldbeutel. In Niedersachsen (groß und meist flach) haben wir viele schlaue Verkehrsteilnehmer, die für sich selbst gut entscheiden können, ob sie laufen, Bus und Bahn, das Auto oder eben das Rad nehmen. Wollen Sie jeden Tag aufschreiben, wann Sie privat wo wie viele Kilometer Rad gefahren sind, oder soll der Staat gar Kontrolleure einsetzen? Ich brauche den Staat nicht in allen privaten Lebensbereichen. Nicht falsch verstehen: Der Staat bleibt für die Infrastruktur zuständig: 13.200 Kilometer Radwege an Straßen und mehr als 4.000 Kilometer des touristischen Niedersachsennetzes sprechen für sich. Das ist doch schon eine ordentliche Belohnung, oder?

Eine Reihe taz.de-LeserInnen sind gegen Belohnungen – aus vielerlei Gründen

„Der Staat ist so wenig dazu gezwungen, wie wir dazu gezwungen sind, 500 Meter zu Fuß zu gehen, wenn doch der Porsche startbereit vor der Tür steht“, schreibt T.V. Leon Gatto meint: „Die meisten Bürger wollen das gar nicht. Das Fahrrad als preisgünstige und schnellere Alternative zu Auto und ÖPNV ist in den meisten Köpfen noch nicht angekommen.“ Tazitus glaubt nicht an die klimafreundliche Nullemission der Radfahrer, schließlich hätten sie einen „erhöhten Kalorienverbrauch. Um ihre Wege zu bewältigen, müssen sie wesentlich mehr essen als Kfz-Benutzer. Und sie stoßen somit mehr CO2 aus.“ Hilfe für Radler? Nicht mit tommy: „Radfahrer sind allzu oft rücksichtsloses Gesindel, von dem man als Fußgänger in penetranter Weise belästigt wird.“ Für Enzo Aduro hat Radfahren nichts mit Umweltschutz zu tun: „Das ist für die Katz. Wir müssen uns darauf einstellen, Ölprodukte zu sparen.“