Musik von Amy Winehouse: Gelebtes Drama
Mit Amy Winehouse wurde Retro gegenwartsfähig. Ihr Soul war keine glatt polierte Museumsschau, sondern voll mit Leidenschaft und Besessenheit.
BERLIN taz | Amy Winehouse war der erste Retro-Star des Jahrtausends. Ihr Northern-Soul-Revival, selbst schon ein Revival zweiter Ordnung, ebnete Musikerinnen wie Adele oder Duffy den Weg und setzt seinen Siegeszug bis heute fort. Neue Entwicklungen hingegen spielten in Winehouse Musik keine große Rolle. Sicherlich, auf einigen ihrer Stücke hört man dezente HipHop-Beats, und ihren Hit "You Know I'm No Good" nahm sie auch noch einmal gemeinsam mit dem Rapper Ghostface Killah auf. Doch in Erinnerung bleiben wird sie als große Rekonstrukteurin einer vergangenen Epoche, die sie allein durch ihre Person, Ausstrahlung und Energie wieder mit neuem Leben versah.
Selbst ihr trauriger Tod hat etwas von Sechziger-Lebensgefühl, als Stars wie Jimi Hendrix oder Janis Joplin noch über ihrem Erfolg unvermittelt ausbrannten. Dass Amy Winehouse mit gerade einmal zwei Platten im Retrostil einen solch immensen Einfluss hatte, liegt zum einen an ihrem großen Talent als Sängerin und Songschreiberin, zum anderen kann man es aber auch mit den Merkwürdigkeiten des verstrichenen Jahrzehnts erklären, in dem nicht Optimismus und Entdeckergeist, sondern Zukunftsangst und Verunsicherung vorherrschten.
Die Musik hat darauf reagiert und sich vom großen neuen Ding verabschiedet. Stattdessen wurde das große alte Ding mehrheitsfähig. Alles ging plötzlich wieder. Ironischerweise konnte Winehouse das alte Ding durch ihr Leiden und ihre Probleme, die ja keine Marketingidee waren, sondern sie über Jahre hinweg ernsthaft bedrohten, zu etwas Eigenem machen, von dem sie entwaffnend offen in ihren Songs erzählte. Ihr Soul war keine glatt polierte Museumsschau, sondern gelebtes Drama, das sie lediglich in einem Vokabular artikulierte, das andere schon vor ihr benutzt hatten. Es war eine Identifikation, die womöglich bis zur Überidentifikation ging.
Neben Retro-Soul gibt es mittlerweile noch eine Reihe anderer Neubesichtigungen der jüngeren Popgeschichte. Besonders die Achtziger werden seit einigen Jahren gewissenhaft durchforstet und verwurstet. An den Erfolg von Amy Winehouse reichen die New-Wave- oder Postpunk-Wiedergänger von heute allerdings kaum heran. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass nur wenige von ihnen so viel Leidenschaft und Besessenheit an den Tag legen, wie Winehouse es in ihrer kurzen Karriere tat. Allein das schon ist eine Lebensleistung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden