■ Münchner Erzbischof vergleicht Abtreibungen mit Sexualmorden: Das Jesuskindlein und die „kleine Natalie“
Kardinal Friedrich Wetter hat keine Kinder, denn er hält sich an den Zölibat. Dessen ungeachtet darf man ihn für einen Kinderliebhaber halten, von Amts wegen sozusagen: Als Erzbischof von München und Freising obliegt ihm allweihnachtlich die Verkündung der Frohen Botschaft vom Knäblein in der Krippe. In Wetters Silvesterpredigt war diesmal von einem anderen Kind die Rede: Natalie Astner, der Neunjährigen, die einem Sexualmörder zum Opfer gefallen war.
Mit Recht sei das ganze Land über diesen Sexualmord entsetzt gewesen, sagte Wetter. Man müsse aber fragen, wo das Entsetzen bleibe angesichts der Tatsache, daß „Jahr um Jahr Tausende und Abertausende kleine Natalies bereits im Schoß der Mutter getötet werden“. Mit einem Satz schlug so der Kardinal den Bogen vom Sexualmord zur Abtreibungsproblematik – und fegte jegliche Differenzierung vom Altar.
Wetters Logik stellt Frauen, die sich zu einer Abtreibung entschließen, moralisch auf eine Stufe mit einem Mann, der zum Lustgewinn ein Mädchen gequält und getötet hat: Frauen sind Mörder – und genießen offenbar, anders als Soldaten, keinen besonderen Ehrenschutz.
Der Kardinal mißbraucht den Fall Astner auf perfide Weise. Die Vereinnahmung vollzieht sich schon mit der Wortwahl von der „kleinen Natalie“, bei der sich der Kirchenmann eins weiß mit den Vereinfachern in Funk und Print. Das konkrete Einzelschicksal gerinnt auf diese Weise zur Chiffre, derer sich jeder für seine Zwecke bedienen kann – an die Stelle eines Gesichts tritt eine Funktion: Bei Wetter wird die „kleine Natalie“ zu einer Inkarnation des Leidens schlechthin.
Wer das Zufallsopfer eines Einzeltäters zur gesichts- wie zeitlosen Märtyrerin verklärt, verteilt auch die Schuld am Mordfall Astner neu: Ihr Tod ist geboren aus unser aller Sünde. Weil wir das Böse in uns und in der Gesellschaft nicht energisch genug bekämpft haben, mußte sie sterben. Wetters Predigt wendet eben diese Moral der Kollektivschuld gegen alle, die Abtreibungen nicht ausdrücklich verdammen. „Bedenklich, ja bedrückend“ sei es, führte der Erzbischof den Gedanken weiter, wie wenige Menschen in Deutschland gegen die Tötung ungeborener Kinder protestierten. Ganz neu ist die Geschichte nicht. Alljährlich zum Weihnachtsfest steht ein ähnliches Kinderschicksal im Mittelpunkt: der Weg Jesu vom unschuldigen Knäblein im Stall zum Schmerzensmann am Kreuz, der für die Sünden der Menschheit leidet. Patrik Schwarz
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