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Moral oder Verwaltung?"Ich bin hier eine Art Exot"

Wenn in den letzten dreißig Jahren der Eindruck entstehen konnte, in Bremen gehe man etwas besser mit Minderheiten um als in anderen Teilen der Republik - dann liegt das auch an Helmut Hafner in seiner Rathaus-Dachkammer.

Hofft, mehr als auf die Politik, auf die Zivilgesellschaft: Helmut Hafner. Bild: dpa
Interview von Ralf Lorenzen

taz: Herr Hafner, hier in Ihrem Büro im dritten Stock des Bremer Rathauses sieht es aus wie in einer Gelehrtenstube. Wohnt hier der gute Geist der Stadt?

Helmut Hafner: Vielleicht wohnt er hier, aber ich bin ihm noch nicht persönlich begegnet. Aber ich arbeite sehr gern im Rathaus. Hierher kommen nicht nur die wohlhabenden Bürger zum Schaffermahl. Hier treffen wir uns auch mit Sinti und Roma, hierher kommen die Muslime zum Ramadan-Empfang. Das Rathaus ist offen für alle.

Und wer Sie besuchen will, muss eben ganz nach oben.

Dieses war von Anfang an mein Büro. Vor ein paar Jahren musste ich darum kämpfen, weil die Feuerwehr meinte, der einzige Rollstuhlfahrer des Hauses sollte nicht im letzten Zimmer sein.

Konnten Sie an diesem entlegenen Ort in den vergangenen dreißig Jahren den Ränkespielen aus dem Wege gehen?

Die spielen hier keine Rolle. Das Rathaus ist in erster Linie Verwaltung. Und darin bin ich eine Art Exot. Ich darf mich um Themen kümmern, die nicht im Verwaltungsalltag verankert sind.

Helmut Hafner

67, geboren in Schramberg im Schwarzwald, studierte in Saarbrücken Philosophie, Geschichte, Psychologie und Theologie. Promotion in Philosophie und Theologie.

Seit 1983 ist er in der Bremer Senatskanzlei zuständig für Kirche und Religionen, politische Philosophie und zivilgesellschaftliche Projekte. Dazu gehören der "Stadtplan der Religionen von Jugendlichen für Jugendliche", die Initiative "Das erste Buch" und die "Nacht der Jugend".

15. "Nacht der Jugend": 15. 11., ab 18 Uhr, Rathaus Bremen. Ehrengast ist der Auschwitz-Überlebende Thomas Geve. Programm: www.nachtderjugend.de. RLO

Hat es Sie nie selbst auf die politische Bühne gedrängt?

In meiner Jugend war ich politisch sehr engagiert. Irgendwann habe ich aber gespürt, dass mir das dicke Fell fehlt, um ein richtiger Politiker zu werden.

Sie beraten jetzt nun schon den vierten Bremer Bürgermeister in Religions- und Grundsatzfragen, seit Hans Koschnick Sie eingestellt hat. Wahrgenommen wurden Sie oft als Redenschreiber. Nun hat man Henning Scherf aber selten mit einem Manuskript in der Hand gesehen.

Ich habe immer nur Reden zu Themen der Geschichte, Theologie und Philosophie entworfen. Aber bei Scherf hatte ich tatsächlich mehr Freiheiten. Die habe ich genutzt, um mit anderen zivilgesellschaftliche Projekte auf den Weg zu bringen.

Eines davon ist die „Nacht der Jugend“ im Rathaus, die nun bereits ihre 15. Auflage erlebt.

Sie ist eine Erinnerungsveranstaltung an das Morden in der Nazizeit und kämpft für eine menschenfreundliche Gegenwart. Sie will vor allem Jugendliche erreichen, um mit ihnen nachzudenken, wie wir gemeinsam demokratisches und humanes Denken und Handeln befördern können. Das Entscheidende für mich dabei ist, dass sich circa 400 Jugendliche an der Vorbereitung beteiligen. Viele kommen aus weniger wohlhabenden Gegenden. Und alle machen die Erfahrung, dass sie wichtig sind und gebraucht werden in unserer Stadt.

Interessieren sich Jugendliche, deren Vorfahren zum Beispiel aus der Türkei kommen, für die Reichspogromnacht?

Natürlich gibt es die Frage: Warum sollen wir uns noch an die Nazi-Zeit erinnern? Viele dieser Jugendlichen kennen die persönliche Erfahrung, sich wertlos und unerwünscht zu fühlen – oft aus der eigenen Familie. Und das ist die Brücke, um zu begreifen, was damals Unschuldige erlebt und erlitten haben. Wohin die Geringschätzung von Menschen führen kann. Dann verstehen sie, dass Erinnern notwendig ist.

Neben Zeitzeugen, Ausstellungen und Diskussionen gibt es bei der Nacht auch Hip-Hop- und Rock-Musik. Wie passt das zusammen?

Wir hatten einmal eine Cheerleader-Gruppe eingeladen. Sie waren gerade Vize-Weltmeister geworden. Ein jüdischer Jugendlicher sagte zu mir: Helmut, Cheerleader und Holocaust, das geht gar nicht zusammen. Da habe ich ihm gesagt: Diese 15 jungen Frauen aus acht Nationen üben das ganze Jahr, nun wollen sie ihren Sport hier zeigen, um ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus zu setzen. Willst du die draußen haben? „Da muss ich nochmal nachdenken“, war seine Reaktion.

Eine Gratwanderung?

Alle, die hier auftreten, müssen ihr Können und ihre Kunst in den Dienst unserer Ideen und Ziele setzen. Und die heißen: Respekt, Anerkennung, Zivilcourage, Verantwortung, Demokratie und Menschenwürde.

Die „Nacht der Jugend“ ist einmal gegen eine ritualisierte Erinnerungskultur entstanden. Wird sie selbst mal ein Ritual?

Die Gefahr ist immer groß, aber es kommen immer neue Jugendliche zur Vorbereitung, mit immer neuen Anregungen und Ideen. Die finden das Erinnern wichtig, da müssen wir keine Überzeugungsarbeit leisten. Aber die Frage, wie das geschehen soll, das ist eine ständige spannende Diskussion.

Ein anderes großes Projekt, das Sie mit auf den Weg gebracht haben, ist die Integrationswoche. Wie kam es dazu?

Als Henning Scherf 1996 Bürgermeister wurde, war sein erstes großes gesellschaftliches Ereignis der Neujahrsempfang. Die Vertreter aller Religionen sollten ein Grußwort sprechen. Der katholische Bischof war da, der evangelische Schriftführer und der Rabbiner. Keiner hat einen Muslim vermisst. Falls doch – wir hätten gar keinen Ansprechpartner gekannt.

Was sich änderte.

Im gleichen Jahr bat zum ersten Mal eine muslimische Gemeinschaft um ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Es kam eine Gruppe von fünf Männern mit der Botschaft: Uns gibt es hier, wir leben gern hier und wir möchten die Beziehungen mit der Stadt intensivieren. Ich hatte so gut wie keine Ahnung vom Islam. Ab damals wurde er jedoch zu einem Schlüsselthema für uns. Und wenig später haben wir mit einer kleinen Gruppe von Muslimen und Nichtmuslimen die erste Islamwoche organisiert, den Vorläufer der Integrationswochen. Das war 1997, und es war die erste Veranstaltung dieser Art in ganz Deutschland.

Nach dem 11. September 2001 wurde der Bremer Senat scharf kritisiert: Er gehe er zu tolerant mit den Muslimen um, insbesondere mit der Gruppierung Milli Görüs.

Diese ersten Muslime, die die Islamwoche mit uns organisiert hatten, kamen von Milli Görüs. Und ich wusste, dass die Beschuldigungen ihnen gegenüber nicht zutrafen, was Bremen anbelangt. Der 11. September war für die gesamte Begegnungsarbeit eine Zäsur: Muslime, die sich in ihrer Nachbarschaft wohl gefühlt hatten, merkten plötzlich, dass man Argwohn gegen sie hegte. Wir haben versucht gegenzusteuern. 2002 gab es die zweite Islamwoche. Wir wussten: Die Muslime selbst sind der beste Schutz gegen gewaltbereite Menschen, die die Religion missbrauchen.

Bedeutet das Bekanntwerden der NSU-Morde vor einem Jahr wieder so eine Zäsur?

Ja, denn die Verunsicherung ist nach wie vor groß. Das teilweise staatliche Versagen hat viel Vertrauen zerstört. Die Erfahrung, als Opfer zu Tätern gemacht zu werden, ist eine tiefe Verletzung. Das Innenministerium und die Sicherheitsbehörden müssen sich gewaltig anstrengen, strukturell, mental und inhaltlich, um neues Vertrauen aufzubauen.

Eine andere Gruppe, mit denen Sie zahlreiche Kontakte pflegen, sind die Sinti und Roma. Woher rührt diese Verbindung?

Aus einem dramatischen Kindheitserlebnis. Ich war fünf Jahre alt und ging mit meinem 14 Jahre älteren Bruder zu einem See. Meine Mutter sagte zu ihm: Pass gut auf Helmut auf, dort sind „Zigeuner“, die stehlen Kinder. Mein Bruder hat nicht auf mich aufgepasst, ich bin abgerutscht, in den See gefallen und fast ertrunken. Ein „Zigeuner“ hat mir das Leben gerettet. Seitdem war das ein heiliges Wort in meiner Familie.

Hat also dieser Badeunfall letztlich dazu geführt, dass es seit 1992 einen nationalen Gedenktag für den Völkermord an den Sinti und Roma gibt?

Klaus Wedemeier, von 1985 bis 1995 Bürgermeister, hat damals die Initiative ergriffen, dass neben den Juden auch die Sinti und Roma einen jährlichen Gedenktag bekommen. Dies ist nun der 16. Dezember: An diesem Datum gab es 1942 den Auschwitz-Erlass Heinrich Himmlers, der die Vernichtung der europäischen Sinti und Roma vorsah.

Nach langem Hin und Her haben die Sinti und Roma jetzt auch in Berlin eine nationale Gedenkstätte. Gleichzeitig werden aus Deutschland Roma in Länder abgeschoben, in denen sie drangsaliert und verfolgt werden. Wie empfinden Sie diesen Widerspruch?

Damit leben wir ja schon sehr lange. Dabei geht nicht nur um Sinti und Roma. Es ist eine Grundfrage, wie unser reiches Land mit Menschen umgeht, die, egal aus welchen Nöten, zu uns kommen. Ich habe es selbst erlebt, wie junge Menschen, die perfekt deutsch sprachen und hier gelebt haben, mit Gewalt abgeschoben wurden. Das ist tieftraurig für mich – auch die Hilflosigkeit zu spüren.

Können Sie das gegenüber den zuständigen Instanzen äußern?

Meist kommt es auf das Grundsätzliche zurück: Wir können nicht alle aufnehmen, unser Asylgesetz ist nur für die, deren Leben bedroht ist. Meine Hoffnung richtet sich da nicht so sehr auf die Politik, sondern auf die Zivilgesellschaft, die Druck ausüben muss.

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