Montagsinterview mit einer Vorzeigemigrantin: "Ich möchte, dass man mich als Beispiel nimmt"
Aynur Boldaz ist mit 12 Geschwistern in einem ostanatolischen Dorf groß geworden. Vor 24 Jahren kam sie nach Berlin,ohne Sprachkenntnisse. Heute führt sie ein Unternehmen mit über 100 Angestellten
taz: Frau Boldaz, wenn sich Deutsche die perfekte Migrantin basteln könnten, kämen wahrscheinlich Sie heraus. Integriert, politisch engagiert, Sie schaffen sogar Arbeitsplätze.
Aynur Boldaz: Neulich auf dem Podium einer IHK-Veranstaltung wurde ich richtig bejubelt. Jemand fragte: Wie konnten Sie so werden, wo ist denn das Mädchen aus Ostanatolien geblieben? Ich habe gesagt: Die suche ich selber auch. Aber die Frage ist, ob ich die finden möchte.
Die Unternehmerin: Aynur Boldaz wurde 1968 in Turnayolu Köyü, einem ostanatolischen Dorf geboren. Sie hat sieben Schwestern und fünf Brüder, ihre Eltern waren Bauern. Mit 18 Jahren kam Boldaz nach Berlin, um zu heiraten. Aus der Ehe, die später geschieden wurde, ging eine Tochter hervor. Aynur Boldaz arbeitete zunächst als Reinigungsfrau und gründete im Jahr 2000 ihr Unternehmen Forever Clean.
Das Unternehmen: Forever Clean ist ein Reinigungs- und Serviceunternehmen. Neben Privatwohnungen betreut Forever Clean Cafés, Büros und Banken. Dependancen in Ankara und Istanbul sind im Aufbau. Daneben betreibt Aynur Boldaz zusammen mit ihrer Tochter das Café Zerne am Holocaust-Mahnmal. In Berlin sind 100 Mitarbeiter in Vollzeit angestellt, in der Türkei sind es 60. Neben den Normalbeschäftigten sind 30 Schwerbehinderte in das Unternehmen integriert.
Warum möchten Sie die nicht finden?
Ich komme aus einem ganz kleinen Dorf. Wo ich jetzt bin und was ich jetzt mache, hat damit absolut nichts zu tun. Ich habe ein Leben geführt wie dieses Kind im Film, mit den Tieren in den Bergen.
Heidi?
Ja, so ein Heidi-Leben habe ich gehabt. Vom Herzen habe ich das noch, diese Hilfsbereitschaft, diese Liebe zu den Tieren. Aber der Rest, du meine Güte!
Was haben Sie nicht mehr?
Dieses Selbstbewusstsein ist jetzt da. Damals hatte ich das ja nicht. Ich war sehr ängstlich. Um Gottes willen, nur nichts falsch machen, nur nichts sagen.
Waren Ihre Eltern so streng?
Nein, nein, ich hatte eine wunderbare Kindheit. Zwölf Geschwister, zusammen mit Onkel, Tanten, Cousins waren wir 20 Personen im Haushalt. Wir hatten 500 Ziegen, Pferde. Jeder hatte eine Aufgabe, auch die Kinder.
Was war Ihre Aufgabe?
Ich habe jeden Morgen Brot gemacht, Fladenbrot für die ganze Familie. Um die Mittagszeit kamen die Ziegen und Schafe in das Dorf, die mussten gemolken werden. Und am Abend hat man den Stall sauber gemacht. Also ich war ein richtiges Dorfmädchen. Das war mein Leben, das ich geliebt habe.
Heute sind Sie Unternehmerin, kleiden sich sehr elegant, sind viel unterwegs. Hätten Sie Ihr altes Leben gerne weitergelebt?
Aus heutiger Sicht: nein. Damals haben die Leute gesagt: Aynur, du verlässt das Dorf bestimmt nicht, weil du die Tiere liebst. Ich war dann die Einzige, die nach Deutschland gegangen ist.
Sie wurden verheiratet. Zwangsweise?
Nein, keine Zwangshochzeit, aber es war der Wunsch der Eltern. Ich war sozusagen dem Sohn einer befreundeten Familie versprochen. Aber wir wurden auf die Hochzeit vorbereitet, haben uns einmal gesehen, Briefe geschrieben. Wir waren einverstanden, das war ganz normal. Man hat sich nicht widersetzt, diese Möglichkeit gab es nicht.
Sie waren 18, als Sie nach Berlin gekommen sind.
Es war ein Schock. Die Eltern, die Ziegen, die Heimat zu verlassen, einen schlimmeren Schock gibt es nicht. Und dann die neue Familie, die Schwiegereltern, die kennst du ja gar nicht. Das fremde Land, ich habe kein Wort verstanden. Schocks über Schocks. Und immer die Angst, dass du als Frau etwas falsch machst. Immer höflich sein, immer nett. Ich wurde sehr schwer krank und kam zu einem Arzt.
Was kann ein Arzt da tun?
Der Arzt sagte: Frau Boldaz, Sie stehen unter Schock. Es muss dringend ein Kurs für sie gesucht werden. Gehen sie dringend zu einem Deutschkurs.
Das haben Sie getan?
Sehr verantwortungsbewusst. Immer um 18 Uhr saß ich da. Ich hatte eine Lehrerin, die hat mir sehr geholfen. Und da habe ich angefangen, Vertrauen zu bekommen und Sympathien für die Sprache, Sympathien ohne Ende für diese Sprache.
Der Sprachkurs hat Sie gerettet?
Damit hat mein Leben angefangen, und dann ging es Schritt für Schritt. Ich habe die deutschen Frauen gesehen, die Auto fahren. Und während des Autofahrens rauchen! Und telefonieren! Ich habe mich gefragt: Wie geht denn das überhaupt? Woher kommt denn dieser Mut, dass die Frauen Auto fahren und dabei auch noch telefonieren können? Also, das war für mich ein Traum, der unerreichbar schien. Ich habe mich zur Fahrschule angemeldet. Wow, war das schwer! Aber ich habe bestanden. Damit begann die große Freiheit. Ich hatte eine Tochter, die ging in den Kindergarten. Ich konnte etwas Deutsch, konnte Auto fahren und dann habe ich gesagt: Okay, jetzt gehst du arbeiten.
Und die Familie, Ihr Mann, haben die das alles akzeptiert?
Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht über meine Schwiegereltern reden. Aber es waren freundliche Menschen, sie haben mich in vielem unterstützt.
Warum genau wollten Sie arbeiten?
Ich wollte unbedingt mal raus, Geld verdienen, selber Geld verdienen. Im Virchow-Krankenhaus suchten sie eine Urlaubsvertretung. Reinigung, mit dem Wuschel arbeiten, unter Frauen und Patienten. Mit großer Freude habe ich diese Stelle angenommen, es war wie ein Lottogewinn. Ach, ich war jung und was die Welt über mich redet, hat mich nicht interessiert, so mutig war ich. Und während ich sauber machte, habe ich überlegt und gesagt: So, der größte Schritt deines Lebens kommt: Ich lasse mich scheiden. (Pause) Puh! Ich wusste: Diese Entscheidung ändert dein Leben. Schaffst du das? Bist du so stark? Wie geht das überhaupt? Noch nie hat sich jemand aus meinem Dorf scheiden lassen.
Warum konnten Sie nicht arbeiten und in der Ehe bleiben? Die anderen Schritte haben Sie doch auch mit der Familie machen können.
Das hatte nichts mit meinem Mann zu tun, das hatte nur mit mir zu tun. Ich kannte über den Kindergarten Frauen, die freiheitsliebend waren. Die ihre eigenen Entscheidungen getroffen haben, typisch europäische Frau eben. Das war nicht denkbar für mich. Ich konnte nur träumen davon, wie das ist, wenn man als Frau Freiheiten hat. Es wurde von Anfang an ja immer für mich entschieden. Man merkt langsam, dass man ein Leben führt, das man sich nicht selbst ausgesucht hat. Deshalb sagte ich: An deinem Traum musst du arbeiten. Und das hieß: weg von der Familie.
Das klingt nach einem sehr einsamen Weg.
Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, wegen meiner Tochter. Die war ja erst sieben. Doch ich habe immer Menschen gefunden, die mich unterstützt haben. Freundinnen aus dem Kindergarten, später mein Netzwerk. Es gab immer eine helfende deutsche Hand.
Sie sagten, Ihre Arbeit hat Ihnen großen Spaß gemacht. Warum haben Sie dann ein eigenes Unternehmen gegründet?
Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Ich wurde Objektleiterin, hatte 150 Mitarbeiter. Doch es war sehr schlecht bezahlt. Was für eine Chance auf einen anderen Job hatte ich? Ich habe keine Ausbildung, war nur fünf Jahre zur Schule gegangen. Wer gibt mir da einen guten Job?
Aber wie konnten Sie mit so wenig Bildung ein Unternehmen aufbauen?
Ich habe mich sehr gut vorbereitet. Ich habe meine Stelle gekündigt und neun Monate lang Kurse und Seminare besucht. Buchhaltung, Arbeitsrecht, Grundlagen der Unternehmensführung, gelernt, gelernt, gelernt.
Kostet so etwas nicht viel Geld?
Ich habe fast kein Geld dafür bezahlt. Ich habe mich beim Bezirksamt Neukölln beraten lassen und die haben mich wie einen Schneeball hin und her geschickt. Und dann, ganz wichtig, ich habe ein Netzwerk aufgebaut. Ich bin in die CDU eingetreten, bin auf jede Veranstaltung gegangen: CDU-Veranstaltungen, Wirtschaftsveranstaltungen, egal. Mein erstes Objekt war dann das CDU-Büro in Neukölln.
Wieso gerade die CDU?
Ich hatte den Eindruck, dass die CDU viel für mittelständische Unternehmen macht, gute Netzwerke hat. Die Leiterin eines Museums, in dem ich damals als Objektleiterin der Reinigungsfirma gearbeitet habe, hat mich angesprochen. Ich habe ihr gefallen, meine Art, die Mitarbeiter zu führen. Da bin ich eingetreten. Später war ich für die CDU auch in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln.
Heute sind Sie in der Vollversammlung der Berliner Handwerkskammer, Sie sind im Mittelstandsbeirat von Wirtschaftssenator Harald Wolf, Sie werden auf viele Veranstaltungen eingeladen. Wie reagieren eigentlich die männlichen türkischen Unternehmer auf Sie?
Sagen wir so, sie haben Respekt. Ich selber wollte zunächst ein deutsches Unternehmen. Fünfundneunzig Prozent meiner Angestellten und 100 Prozent meiner Kunden sind deutsch. Es reicht ja, wenn die Chefin die Sprache nicht so gut kann (lacht). Ich wollte Fachkräfte und Mitarbeiter, von denen ich lernen kann. Inzwischen engagiere ich mich aber für die türkische Sache. Ich bin in deutsch-türkischen Unternehmensnetzwerken, versuche Brücken zu bauen zwischen den deutschen und den türkischen Unternehmen - und auch zwischen Deutschland und der Türkei.
Sie werden auch von Schulen eingeladen. Was erzählen Sie?
Meinen Werdegang. Ich erzähle, was möglich ist. Ich möchte schon, dass viele mich als Beispiel nehmen. In der Rütli-Schule zum Beispiel, alle haben schlaff im Stuhl gesessen, als ich reinkam. Als ich gesprochen habe, saßen sie kerzengerade, die waren so neugierig. Ich hatte aber auch mal eine Gruppe Schüler bei mir im Unternehmen, und nachher habe ich von den Mädchen gehört: So eine Mutter wollte ich nicht, ich will dass meine Mama zu Hause ist.
Enttäuscht Sie das?
Ich bin nicht enttäuscht. Das ist mir ja nicht fremd, dass es schön ist, wenn die Mama zu Hause ist. Leider ist es aber so, dass es viele Schulabbrecher gibt. Und wenn ich junge Frauen sehe, die nichts auf die Beine stellen, jammern, dass sie keinen Job finden, dafür habe ich ausnahmslos kein Verständnis. Da kann mir niemand ein Märchen erzählen. Ich finde überall einen Job, wenn ich suche. Definitiv! Das hat mit mir zu tun, wie ich mich engagiere. Aber man muss den Jugendlichen auch Unterstützung geben.
Senat, Industrie- und Handelskammer und die Handwerkskammer machen eine Kampagne: "Berlins Wirtschaft braucht dich". Bringt das denn was?
Ich glaube schon. Aber die Kampagne ist nur das eine. Die Unternehmen müssen auch einstellen, ausbilden, auch wenn die Noten nicht so gut sind. Ich versuche den Schülern auch immer klar zu machen, dass sie Vorteile haben.
Was für Vorteile?
Na, dass sie in Deutschland geboren sind, mehrere Kulturen haben, mehrere Sprachen sprechen. Wer hat das schon? Daraus kann man was machen. Bei der Polizei, den Behörden, überall werden Migranten gebraucht. Und wenn hier jemand eine Ausbildung abgeschlossen hat, hat er in der Türkei sehr gute Chancen. Das ist den meisten gar nicht bewusst. Aber da brauchen sie eben auch Unterstützung.
Ist es eigentlich möglich, in zwei Kulturen zu leben, der deutschen und der türkischen?
Es gibt Dinge, die sind ganz fest, die Familie zum Beispiel. Auch wenn sie der Ministerpräsident der Türkei sind: Familie geht über alles! Und als Frau muss immer die Familie an erster Stelle stehen. Sie haben eigentlich keine andere Möglichkeit. Also, ich habe die Kultur gerne gewechselt. Obwohl: Gewechselt kann man auch nicht sagen. Ich habe mir genommen, was schön davon ist. Ich habe mich nie fremd gefühlt in der deutschen Kultur. Ich liebe die deutsche Kultur.
Was gefällt Ihnen am Besten?
Die Freiheit. Dass sich keiner einmischt, dass man tun kann, was man will. Und die Menschenrechte. Dass Sie sich mit einem Politiker streiten können. Dass Sie sich mit einer Behörde streiten können, das ist Wahnsinn! Aber ich mag schon auch die türkische Kultur: Dass man sich hilft, jeder ist für jeden da, der ganze Zusammenhalt. Aber das hat eben auch Nachteile.
Haben Sie türkische Freunde?
Meine Freunde sind eher Deutsch. Wobei ich leider wenig Privatleben habe. Ich habe keine Zeit. Mein Unternehmen geht vor, das ist eigentlich meine Familie. Es gibt wenige, die das verstehen, am besten klappt es mit Leuten, die auch selbstständig sind. Leider gibt es zu wenig Frauen und fast keine türkischen Frauen, die so etwas wie ich machen. Erst jetzt ist das langsam im Kommen.
Waren Sie eigentlich mal wieder in Ihrem Dorf?
Nach 20 Jahren war ich einmal da. Es wohnen nur noch 40 Menschen dort, überall leer stehende Häuser, es ist traurig. Es gibt keine Arbeit. Alle meine Geschwister sind in Istanbul oder Ankara. Nur ein Bruder lebt noch bei meinen alten Eltern.
Wie ist heute das Verhältnis zu Ihren Eltern?
Nach der Scheidung hatte ich den Kontakt abgebrochen. Doch heute ist meine Mutter stolz, dass ich auf eigenen Beinen stehe. Mein Vater dagegen ist irritiert, dass ich mache, was ich will, privat, geschäftlich. Das geht einfach nicht. Ich habe ihn einmal eingeladen nach Berlin, damit er sieht, was ich mache. Da hat er gestaunt, und war stolz. Mit großer Vorsicht - aber er war auch stolz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland