Montagsinterview mit Mahmoud Seud: "Wir haben gegen die Rocker gekämpft"

Seit 30 Jahren betreibt Mahmoud Seud in Kreuzberg 36 sein Lokal: Die Wände sind holzgetäfelt, in den Regalen stehen Bücher und alte Radios, dazwischen hängen Landschaftsbilder, Lenin und Erasmus von Rotterdam.

Ganz früher war hier einmal ein Schokoladengeschäft: Mahmoud Seud in seiner "Stiege" Bild: Wolfgang Borrs

taz: Herr Seud, Sie sind seit über 30 Jahren Wirt der Stiege in Kreuzberg. Was hat sich vor allem verändert in SO 36?

Mahmoud Seud: Viel, aber der Kiez ist noch da. "SO 36 bleibt!", wie es heißt. Dass McDonalds es hierher geschafft hat, finden wir allerdings unglaublich.

Etwas verändert sich also doch.

In unseren Lokalen haben wir eine Menge Stammgäste seit der Wende verloren. Dafür kommen vor allem spanische Touristen, aber auch Schweden und Dänen. Einer unserer Kellner, der aus demselben palästinensischen Dorf stammt wie wir, aber dann in Kopenhagen gelebt hat, freut sich immer, wenn er mal wieder Dänisch sprechen kann.

Wie würden Sie die Veränderungen beschreiben?

Den Unterschied zu früher hat neulich Leila, eine halbe Palästinenserin, gut auf den Punkt gebracht. Ihr gehört der Jodelkeller in der Adalbertstraße. In der Kneipe trafen sich früher die Hells Angels. Die Rocker sind jetzt 60 oder 70 - und kommen, wenn überhaupt noch, nicht mehr mit ihren Motorrädern, sondern mit Fahrrädern. Da stehen manchmal 20 Fahrräder vor dem Jodelkeller. Um mit der Zeit zu gehen, hat Leila ihre Kneipe nun radikal umgestaltet.

Wir hoffen, Sie haben das mit der Stiege nicht auch vor.

Der Flüchtling: Mahmoud Seud wird 1951 im Südlibanon geboren. Sein Bruder, der über Belgien nach Westberlin gekommen war, holte ihn Anfang der 70er nach. Als das Flüchtlingslager Tel Zater in Beirut 1976 von Falangisten gestürmt wird - wobei sein Vater und einer seiner Brüder getötet werden -, zieht auch der Rest seiner Familie nach Berlin. Heute leben noch drei Brüder und eine Schwester hier.

Der Wirt: Mahmoud und seine Brüder beschäftigen in ihren Lokalen unter anderem Palästinenser aus ihrem Dorf Deir al-Kassi und dem Flüchtlingslager Tel Zater. In der Stiege gab es sogar mal eine "Pizza Tel Zater". Sie wurde wieder abgeschafft, weil die von dort Vertriebenen nicht immer daran erinnert werden wollten.

Der Berliner: Der 58-Jährige will hierbleiben: "Ich wohne und lebe in Kreuzberg - wenn ich auch gerne Urlaub in Marokko mache und die libanesische Küche schätze."

Nein, wir machen das natürlich nicht. Unsere Einrichtung - das war ganz früher mal ein Schokoladengeschäft, mit eigener Herstellung im Keller - steht fast unter Denkmalschutz. Ich habe dann noch etliches auf den Trödelmärkten dazugekauft.

Wo kommt Ihre Familie ursprünglich her?

Meine Eltern lebten in Deir al-Kassi, einem Dorf nahe Akka. Sie hatten Oliven- und Feigenbäume. 1948, im ersten Arabisch-Israelischen Krieg, flohen sie in ein Dorf im Südlibanon. Dort wurde ich 1951 geboren. Meine Eltern hofften, irgendwann wieder nach Deir al-Kassi zurückkehren zu können, aber die Angst vor den Israelis blieb. Als dann auch noch 1953 mein ältester Bruder beim Spielen von einem anderen Kind mit einem selbst gebastelten Gewehr tödlich verletzt wurde, zogen meine Eltern nach Beirut in das Flüchtlingslager Tel Zater. Dort bin ich groß geworden. Mein Vater machte sich später mit einem Kleidergeschäft selbstständig.

Wie sah das Lager aus?

Wir haben, bis wir von dort vertrieben wurden, in alten Blechcontainern gewohnt, die auseinandergeschnitten worden waren. Man durfte keine festen Gebäude aus Stein errichten, das hat die libanesische Regierung nicht erlaubt. Den Palästinensern machte sie überhaupt das Leben schwer: Man durfte dies nicht und das nicht als Staatenloser. Mit 16 bin ich abgehauen in ein Ausbildungslager der PLO bei Damaskus.

Wie sind Sie nach Berlin gekommen?

Mein zweitältester Bruder, Ahmed, ging nach Belgien und von dort nach Westberlin, wo sich damals kurz nach dem Mauerbau die Einheimischen scharenweise nach Westdeutschland absetzten. 1969 fand Ahmed Arbeit als Kellner in der ersten Pizzeria Kreuzbergs - im Samira. Das Restaurant gehörte Hamsi, einem Libanesen. Als Ahmed Fuß gefasst hatte, holte er mich und meinen Bruder Hamude nach.

War das so einfach?

Er verschaffte uns ein Einreisevisum in die DDR. Von dort sind wir dann ohne Probleme nach Westberlin gelangt, wo wir Asyl beantragten. 1975 holten wir auch meinen jüngsten Bruder Mustaffa nach Berlin. Er war in Tel Zater in die Nähe eines Schusswechsels gekommen und hatte dabei einen Streifschuss am Kopf abbekommen, der ihn zum Teil gelähmt hatte. Vom Beiruter Krankenhaus schafften wir ihn in ein Ostberliner Krankenhaus. Dort musste er alles neu lernen. Als es ihm etwas besser ging, kam er nach Westberlin.

Wie wurden Sie Kneipenwirte?

Ahmed kaufte dem Libanesen 1976 das Samira ab. Der hatte die Nase voll von Kreuzberg. Hamude hat dann eine andere Pizzeria - Jasmin - in der Wilhelmstraße übernommen und später für seinen Sohn auch noch das dortige Steakhaus Asador.

Und für Sie?

Für mich und Mustaffa wurde das Lokal Stiege in der Oranienstraße am Moritzplatz angeschafft. 1985 kaufte Ahmed noch den kleinen Park gegenüber vom Samira, und gleich neben dem Lokal pachtete er ein Trümmergrundstück, aus dem er einen Biergarten machte. Im Park eröffnete er einen Hähnchengrill. Nach der Wende erwarb er noch ein spanisches Lokal: das La Paloma in der Skalitzer Straße.

Wie seid ihr auf die Stiege gekommen?

Ahmed hat sie damals gefunden. Sie gehörte einem Deutschen und war geschlossen worden, nachdem eine Rockerbande sie gestürmt hatte, weil linke Studenten in dem Lokal verkehrten.

Rocker in Kreuzberg?

Die hatten ihr Clubheim im stillgelegten und heute zugemauerten U-Bahnhof Dresdener Straße - unter dem jetzigen Alfred-Döblin-Platz, also ganz in der Nähe der Stiege. Auch zu uns kamen sie dann. Wir haben damals - 1974 - richtig gegen die Rocker gekämpft. Unsere Gäste - Linke, Künstler und Studenten - hielten zu uns. Die Polizei hat dagegen nie geholfen, sie hat uns nur ermutigt: "Macht weiter so!"

Die linke Scene, die sich nach dem Mauerbau vornehmlich in den vom Bürgertum überstürzt verlassenen Großwohnungen links und rechts des Kudamms angesiedelt hatte, verlagerte sich ab Mitte der 70er-Jahre nach Schöneberg und Kreuzberg. Dorthin zogen auch die türkischen Arbeiter, die bis dahin in den Wohnheimen ihrer Großbetriebe untergebracht waren. Sie ließen ihre Familien nachkommen. Die linken Studenten begriffen die Türken als "fünfte Kolonne" der Hausbesitzer zum gänzlichen Herunterwohnen der Altbausubstanz. Die Zitty schrieb 1980: "In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei … Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen." Der Bezirk Kreuzberg verhängte daraufhin "Zuzugssperren".

Solche Probleme hatten wir nicht: Die Türken waren fast alle Arbeiter in Industriebetrieben, wir waren dagegen Selbstständige. Dafür ging der Ärger mit den Rockerbanden weiter. Die einen nannten sich "Kettenhunde Berlin" und die anderen "Phönix".

Was haben Sie dagegen getan?

Wir haben uns nicht einschüchtern lassen. Außerdem haben wir Verstärkung organisiert. Umgekehrt haben wir auch anderen geholfen - zum Beispiel rief mal die Kneipe Tankstelle in der Adalbertstraße bei uns an und bat um Unterstützung, ebenso die Wirtin der Roten Harfe am Heinrichplatz. Als Ahmeds Truppe da anrückte, haben sie sich ergeben. Auch das von linken Jugendlichen 1973 besetzte Tommy-Weisbecker-Haus in der Wilhelmstraße haben wir, die Palästinenser, geschützt - als die Rechten es angreifen wollten.

Wie sind Sie den rechten Rockern gegenüber aufgetreten?

Einmal kamen sie in die Stiege, Ahmed war gerade im Lokal: Er gab ihnen fünf Minuten, um zu verschwinden. Sie wollten nur was trinken. Nein, ihr müsst raus, sagte Ahmed und hat sich geweigert, sie zu bedienen. Schließlich gingen sie wieder. Später durften sie dann reinkommen - aber ohne ihre Jacken.

Waren auch andere Nazis ein Problem?

Es gab unter den hiergebliebenen Kreuzbergern, die nicht den Betrieben nach Westdeutschland gefolgt waren, eine Menge Rechte. Hier gleich in der Luckauer Straße die Kneipe zum Beispiel, da hat der Wirt seine Musikbox nach draußen gestellt und die ganze Zeit laut "Kreuzberger Nächte sind lang" gespielt. Seine Gäste haben mitgegrölt und uns den Hitlergruß gezeigt.

Wann hat sich das geändert?

Gegen Ende der 70er-Jahre kamen immer mehr Hausbesetzer, zu denen wir gute Beziehungen hatten, ebenso zu den Leuten vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), die das Haus gegenüber in der Oranienstraße kauften. Auch das Max & Moritz gleich daneben war ein linker Laden. Nach einem Konflikt in der Silvesternacht 1982 haben wir alle zusammen Dabke durch den Kiez getanzt.

Ab den späten 70er-Jahren kam auch immer mehr Prominenz in die "Stiege"…

Ja, zum Beispiel der Dichter Johannes Schenk und die Malerin Natascha Ungeheuer vom Kreuzberger Straßentheater. Später wurde die Stiege Manfred Krugs Stammkneipe - und dann auch Drehort für die Serie "Liebling Kreuzberg". Didi Hallervorden verkehrte bei uns, weil es die Stammkneipe seiner Frau war, und Wolfgang Jürgen, der den Verlag Berliner Handpresse betrieb, saß bis zu seinem Tod 2009 fast täglich hier. Wir waren immer ein beliebtes Altberliner Lokal; nach dem Mauerfall sind jedoch viele Gäste nach Prenzlauer Berg abgewandert.

Engagieren Sie sich politisch?

Früher haben wir die PLO finanziell unterstützt. Danach habe ich einigen Kindern von gefallenen Palästinensern geholfen, auch mein Bruder Ahmed hilft anderen Familien. Die Kinder, die er unterstützt, sind jetzt 12 und 13, eines lebt in Gaza, eines bei Ramallah.

Haben Sie eigentlich mal das Dorf besucht, aus dem Ihre Eltern stammen?

Ja, als ich die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, konnte ich das.

Wann war das?

2004 bin ich mit meiner ältesten Schwester und meiner Frau in unser Dorf gereist. Ich war furchtbar aufgeregt.

Was haben Sie bei Ihrem Besuch dort erlebt?

Im Nachbardorf von Deir al-Kassi leben Drusen, die 1948 dageblieben sind. Einige haben meine Eltern noch gekannt: Sie haben uns das Elternhaus, den Garten und alles gezeigt, und ich habe Fotos gemacht. Sie wollten, dass ich bei ihnen wohne, beim Abschied haben sie geweint. 2006 bin ich mit meiner dänischen Nichte noch einmal in unser Dorf gefahren.

Was hat sich für Sie geändert dadurch, dass Sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben?

Ich hatte 15 Jahre eine Aufenthaltserlaubnis, war in dieser Zeit also nur geduldet - und durfte Westberlin nicht verlassen. Aber nach Osten hin wurde das nicht kontrolliert, deswegen habe ich zum Beispiel Urlaub in Polen und Bulgarien gemacht. Überhaupt war ich öfter in Ostberlin: Da kamen damals viele verletzte Palästinenser hin. Nicht wenige haben dort auch studiert.

Was ist mit dem Rest Ihrer Familie passiert?

Wir haben unsere drei Geschwister und unsere Mutter 1977 nach Berlin geholt. Im selben Jahr habe ich geheiratet. Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben, ein Jahr nach meiner Mutter. Ich habe eine Tochter, sie ist jetzt 33. Und außer meiner ältesten Schwester, die in Berlin lebt, habe ich noch drei weitere Schwestern: Eine lebt in Helsingborg in Schweden, zwei leben in Dänemark in der Hamletstadt Helsingör. Die Orte liegen zehn Minuten auseinander - mit der Fähre.

Wie sehen Sie Ihr Leben hier im Exil?

Jetzt, wo ich älter bin, werde ich sentimental und gehe viel in arabische Lokale - zum Ägypter auf dem Kudamm, um mir Bauchtanz anzukucken, oder zu einem Palästinenser aus Nablus am Kollwitzplatz. Ich bin ein Nachtmensch. Bis vor drei Jahren habe ich noch regelmäßig gefastet und dann auch keinen Alkohol getrunken. Aber damit habe ich aufgehört.

Würden Sie gerne in Palästina oder wieder im Libanon leben?

Das läuft dort alles ganz anders als hier. Ahmed wollte irgendwann mit Frau und Kindern in Jordanien leben. Er ist aber wieder zurückgekommen. Mir ging es ähnlich - in Beirut. Ich hatte meiner Tante Geld geschickt, mit dem sie sich dort eine Eigentumswohnung kaufte. Bevor sie starb, hat sie mir diese Wohnung überschrieben. Ich wollte sie dann vermieten, aber das war alles derart kompliziert, dass ich sie schließlich verkauft habe. In Berlin macht man Geschäfte anders - zum Beispiel beim Eckhaus, wo unten die Stiege drin ist. Das sollte 2000 verkauft werden, da haben wir es einfach erworben. Wir sind die erste palästinensische Generation, die in Berlin Gastronomie betreibt.

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