Montagsinterview Stadtsoziologe Häußermann: "Die Bürger sind ein wichtiges Korrektiv"
Hartmut Häußermann fordert mehr soziale Mischung in den Kiezen. Was passiert, wenn angestammte Bewohner verdrängt werden, sieht er vor der eigenen Haustüre am Kollwitzplatz.
taz: Herr Häußermann, Sie wohnen am Kollwitzplatz - mitten im Anschauungsgebiet, wenn es um Verdrängung und die viel gescholtene "Gentrifizierung" geht. Fühlen Sie sich hier noch wohl?
Hartmut Häußermann: Ich fühle mich sehr wohl. Wenn man von Gentrifizierung hier spricht, ist das sicher eine Tendenz - mehr aber auch nicht. Es ist schon noch sehr durchmischt hier.
Das heißt, Sie treffen noch viele angestammte Bewohner?
Hartmut Häußermann gilt als der führende Stadtsoziologe in Deutschland. Er warnt seit Jahrzehnten vor Verdrängung und sozialer Entmischung in Städten und mahnt eine neue Urbanität an. Auf den 65-Jährigen geht zum Beispiel die Einführung von Quartiersmanagement in Berlin zurück, zudem erstellt er regelmäßig Studien für die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Er war Leiter der Evaluation des Bund-Länder-Programms "Die soziale Stadt".
Nach dem Soziologiestudium an der Freien Universität Berlin, wo er 1967 Asta-Vorsitzender war, machte er als Professor Station in Kassel und Bremen. 1993 kehrte er nach Berlin zurück, als Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität. Der gebürtige Schwabe hat eine Tochter, die wie er selbst in Prenzlauer Berg wohnt. Praktisch: So kann der Soziologe seine zwei Enkelkinder häufig sehen.
Wirkliche Muße zum Lesen und Wandern findet Häußermann auch im jüngst angetretenen Ruhestand nicht: Bei Kongressen ist er weiterhin als Redner gefragt. Zudem erstellt er weiter Studien für den Berliner Senat und war unlängst im Auftrag der Bundesregierung zu einer Forschungsreise in New York. Baumodelle aus aller Welt (siehe Foto) stapeln sich im Regal des Vielgereisten.
Ja sicher, hier im Haus zum Beispiel. Es ist ja ein Irrtum, dass man an der Fassade erkennt, wer dahintersteckt. Einige Häuser sind schön renoviert und sozialer Wohnungsbau, und da wohnen noch häufig Menschen, die hier tief verwurzelt sind.
Ihre Wohnung ist hell und geräumig, aber nicht luxuriös. Sehen Sie sich selbst als Teil der Verdrängung oder als Teil der Hausgemeinschaft?
In dem Haus stand die Hälfte der Wohnungen leer, als ich vor zehn Jahren einzog, also ich kann gar niemanden verdrängt haben. Wir haben zusammen mit einer Gruppe das Haus gekauft und im Zuge der sozialen Stadterneuerung saniert. Die Bewohner hatten die Wahl, zu bleiben.
Sie haben sich ja lange gegen den Begriff "Gentrifizierung" gewehrt. Warum eigentlich?
Gentrifizierung ist in Amerika eine Theorie für die Entwicklung innerstädtischer Gebiete, die es hier so nicht gibt. Dort ist es ein reiner Marktprozess, gesteuert von Investoren, es gibt kaum Mieterschutz. Solche Prozesse gibt es bei uns nur in Ansätzen, denn wir haben hier im Sanierungsgebiet viel staatliche Regulierung und Förderung gehabt. Jeder Mieter hatte in der Zeit der Sanierung, das Recht und die Möglichkeit, zu bleiben. In dieser Zeit gab es natürlich viel Veränderung, viele etwa wurden rausgekauft. Der Punkt ist: Man musste sich engagieren, man musste sich mit Eigentümern auseinandersetzen. In praktisch jedem Haus ist eine andere Regelung möglich gewesen. Der Wandel hier ist das Ergebnis komplexer Prozesse - abhängig vom Verhandlungsgeschick der Bewohner - und eben nicht vor allem von ökonomischen Faktoren.
Könnte sich das jetzt ändern, wo Schutzfaktoren von staatlicher Seite abgebaut sind?
Das tut es. Seit die soziale Stadterneuerung vor einigen Jahren eingestellt, seit das Sanierungsgebiet Ende letzten Jahres aufgehoben wurde, gibt es faktisch nur noch Modernisierung bei Umwandlung in Eigentumswohnung. Die Tendenz verändert das Viertel auf lange Sicht: Seither geht es vor allem nach dem Markt, jede Sanierung ist verbunden mit einer saftigen Mieterhöhung und hat entsprechende Verdrängungseffekte zur Folge. Seither rede ich auch eher von Gentrification.
Sie sind vor mehr als fünfzehn Jahren zurück nach Berlin gekommen, vor zehn Jahren nach Prenzlauer Berg gezogen. Hätten Sie gedacht, dass sich der Stadtteil derart verändert?
Dass er sich so rasch und in diese Richtung verändern wird, hätte ich nicht gedacht. Aufgrund der ökonomischen Situation von Berlin habe ich nicht damit gerechnet, dass es so eine große zahlungskräftige Klientel gibt, die luxuriöse Wohnungen kaufen würde.
Hat die Politik da etwas versäumt?
Nach meiner Ansicht ist es ein Versäumnis, dass das Land Berlin keine soziale Stadterneuerung mehr finanziert. Ich halte auch die Entscheidung für falsch, sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurückzuziehen. Großsiedlungen haben wir genug, aber nötig wären kleine Einheiten, überall in der Stadt verstreut, eine Art Akupunktur. Damit selbst in Gebieten, in denen der Markt für höhere Mieten sorgt, durch öffentliche Subvention auch Wohnungen entstehen, in denen Menschen mit niedrigem Einkommen wohnen können.
Es erweckt den Eindruck, als ob der Staat seine Steuerungsfunktion in der Stadtentwicklung zunehmend abgibt - sei es bei der Nachnutzung von Tempelhof, sei es beim sozialen Wohnungsbau oder bei Großinvestorenprojekten.
Die Instrumente der Stadtplanung sind ausgerichtet auf wachsende Städte. Aber wenn es kein Wachstum gibt, wenn die Stadt ein dringendes Interesse daran hat, dass überhaupt Investoren kommen, dann verändert sich das Machtverhältnis. Die Entwicklungsprojekte, die wir in Berlin nach der Wende hatten, sind Beispiel dafür: sogenannte Public Private Partnerships, die nur funktionieren, wenn die Investoren mitmachen. Man kann Mediaspree nicht mit öffentlichem Geld bauen.
Beim Projekt Mediaspree hat sich eine dritte Bewegung lautstark zu Wort gemeldet: die von unten, und sie hat mehr erreicht als nur Provokationen. Kann das Beispiel Schule machen?
Sicher. Da die Stadtplanung im Ganzen darauf angewiesen ist, mit einem guten Verhältnis zu privaten Investoren deren Wünschen entgegenzukommen, sind die Bürger ein wichtiges Korrektiv. Die sagen dann Nein - dieses Abwehren ist wichtig.
Sie schalten sich seit Jahren mit Studien und dem sozialen Monitoring in den Politikbetrieb ein. Gleichzeitig werden Herzensanliegen wie der soziale Wohnungsbau abgeschafft. Haben Sie überhaupt das Gefühl, gehört zu werden?
Bei diesem Thema nerve ich, seit der soziale Wohnungsbau abgeschafft wurde. Lange Zeit hatte ich das Image, das ist halt ein Traditionalist, wir aber müssen modern und innovativ sein. Inzwischen sehen wohl viele, dass die Abkehr vom sozialen Wohnungsbau ein Verlust ist. Aber Politikberatung heißt nicht Politik machen: Wir entscheiden nicht.
Dabei sehen Sie als Bewohner die Missstände in der Stadt, als Wissenschaftler wüssten Sie, was zu tun ist. Frustriert das?
Politische Prozesse sind unheimlich zäh und langwierig. Ein Beispiel ist die Diskussion über die Bildungssituation in den Gebieten, in denen Sie eine stark segregierte Bevölkerung haben mit hohem Migrantenanteil und katastrophaler Schulsituation wie im Wedding oder in Nordneukölln. Um diese Prozesse hat sich der Bildungssenator lange Zeit gar nicht gekümmert. Aber jüngst sagte auch er, da gibt es ein Problem, wir müssen uns um diese Schulen kümmern - immerhin! Was er macht, ist immer noch ein anderes Thema. Politik ist eben auch das Bohren dicker Bretter. Manchmal stößt man auf aktuelle politische Dokumente und findet Sätze, die man vor sechs Jahren geschrieben hat - und darüber ist man dann glücklich.
Energisch eingemischt haben Sie sich im Fall des Soziologen Andrej Holm, der vor zwei Jahren vom Bundeskriminalamt festgenommen worden war. Er wurde verdächtigt, Mitglied einer linken terroristischen Gruppe zu sein - weil er Begriffe wie "Gentrifizierung" in seinen Schriften verwendet hatte. Hat Sie das erschreckt?
Erschreckt hat es mich, weil unsere Arbeit direkt betroffen war. Ihm ist ja vorgeworfen worden, dass er Begriffe gebraucht, die auf diversen Flugblättern auftauchen. Das waren Begriffe, die in der Stadtsoziologie völlig unschuldig gebraucht werden. Dass man sagen kann, das sei terroristische Anstiftung, diese Ahnungslosigkeit und die Verschwörungstheorien, die der Verfassungsschutz entwickelt hat, das war sehr erschreckend. Wenn wir nicht mehr frei kommunizieren und unsere Begriffe formulieren können, ohne dass die zum Vorwurf politischer Kriminalität werden … dann ist die Wissenschaftsfreiheit gefährdet.
Das hat die Universität aber ziemlich kaltgelassen. Außer Ihnen und der Gesellschaft für Soziologie hat sich kaum einer aufgeregt.
Die Universität hat sich insgesamt überhaupt nicht darum gekümmert. Das hat mich erstaunt, wie gleichmütig meine Kollegen das hingenommen haben. Ich bin mir sicher, ohne die mediale Aufmerksamkeit, die wir erzeugt haben, wäre die Sache nicht letztlich glimpflich verlaufen.
Fühlen Sie sich selbst gegängelt, wählen Sie Ihre Worte sorgsamer?
Ich persönlich habe nichts mehr zu verlieren. Es ist etwas anderes, wenn jemand am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere steht. Das kann jemanden schädigen - wie sich die Stigmatisierung für Andrej Holm auswirkt, wissen wir noch nicht. Für mich ist das irrelevant, ich bin am Ende meiner universitären Laufbahn, ich habe keine Angst.
Sie könnten sich jetzt ins Private zurückziehen - aber was bedeutet "privat" überhaupt, wenn man Soziologe ist?
Wenn man sich mit solchen Themen beschäftigt wie ich und man denkt, man hat etwas zu sagen, was andere so nicht sehen, dann kann man das nicht einfach lassen. Ich habe die ganze Zeit meiner wissenschaftlichen Arbeit als eine Zeit verstanden, die dazu beitragen sollte, Probleme besser zu verstehen oder gar zu lösen. Solange es diese Probleme gibt, wird mich das aufregen, und ich werde mich engagieren.
Mit Blick auf Berlin scheint es ja so, dass sich Probleme in bestimmten Vierteln verfestigen, andere Gegenden aber vor sich hin schlummern. Von Dynamik ist nicht viel zu spüren.
Die Dynamik ist insofern in den Armutsgebieten, als diese multikulturell sind. Die Arbeitslosenquote ist dort hoch. Wir haben vorgeschlagen, so genannte "Vorranggebiete Zukunftssicherung" einzurichten, und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beschäftigt sich damit. Wedding und Moabit zusammengenommen und Nordneukölln, also Gebiete mit hoher Konzentration sozialer Probleme, das sind Gebiete mit 150.000 Einwohnern - Großstädte! Wenn Sie da eine stark segregierte Bevölkerung haben, werden Kindern die Lebenschancen genommen. Wir haben gesagt, dort müsste besonders intensiv - und zwar von allen Senatsverwaltungen gemeinsam! - etwas getan werden. Zukunftssicherung heißt, Kindern die Bildungschancen zu verbessern. Das ist das Kapital zum sozialen Aufstieg - das war bei mir ja genauso.
Sehen Sie Ihre Forderungen durch den neuen Sozialstrukturatlas bestätigt?
Er hat die gleichen Ergebnisse wie das Monitoring vom Februar. Aber ist die Gesundheitssenatorin auf die damalige Forderung nach Zusammenarbeit der Fachverwaltungen eingegangen? Nein - und das genau ist das Problem der Senatspolitik bei der Bekämpfung der räumlichen Exklusion.
In den USA sind Gettos das Ergebnis sozialer Entmischung.
Das liegt aber nicht in der Tradition der europäischen Stadt: Alle, die zu uns kommen, sind Bürger dieser Stadt. Alle haben eine gemeinsame Verantwortung für die Bürger dieser Stadt - dieser Gedanke lebt noch. Wir sind nicht so neoliberalisiert, wie oft behauptet wird. In Deutschland nicht.
Noch nicht?
Ich denke, dass die Idee, dass Städte wie Märkte organisiert werden sollen, mit der Finanzkrise erst einmal an Geltungsmacht verloren hat. Es geht doch jetzt darum, dass sich Städte wieder mehr als Orte eines Gemeinwesens wahrnehmen.
Berlin möchte aber gern ein europäisches Dienstleistungszentrum werden. Angenommen, die Krise ist überstanden und Berlin entwickelt sich wirklich in diese Richtung - was dann?
Dann haben Sie eine viel stärkere Nachfrage nach Wohnungen für gehobenen Einkommensgruppen, und es würde in den innerstädtischen Zentren tatsächlich großflächige Verdrängung geben. Die Sozialstruktur könnte ähnlich wie in Paris werden, mit seinen vernachlässigten Banlieues und dem luxuriösen Zentrum. Wenigstens in dieser Hinsicht hätten wir dann Weltniveau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers