Montagsinterview Kathrin Schmidt: "Ich wusste schnell wieder, wer ich bin"
Kathrin Schmidt erhielt für das Buch über ihre Krankenheit nach einen Schlaganfall den Deutschen Buchpreis. Über Perfektionismus, die Angst vorm Tod und das Problem, mit seiner Krankenheit berühmt zu werden.
taz: Frau Schmidt, Sie haben vor sieben Jahren nach einer Hirnblutung zwei Wochen im Koma gelegen. Haben Sie noch Angst vor dem Tod?
Kathrin Schmidt: Nein. Vorher war ich todesfürchtig, das ist völlig weg. Vielleicht weil ich so nah dran am Tod war und merkte: So schlimm ist das nicht.
Geht es Ihnen auch in anderen Lebensbereichen so?
Ich muss mich nicht mehr nach allen Seiten absichern, wenn ich vor mehreren Leuten rede. Oft habe ich früher lieber den Mund gehalten, jetzt ist mir egal, was die Leute denken.
Hatten Sie diesen Perfektionismus auch beim Schreiben?
Die DDR-Biografie: Kathrin Schmidt wird 1958 in Gotha geboren. Nach ihrem Psychologiestudium ist sie wissenschaftliche Assistentin an der Universität Leipzig, ab Mitte der 80er arbeitet sie als Kinderpsychologin in Brandenburg und Berlin. Zu Wendezeiten engagiert sie sich mit ihrem Mann in der Oppositionellenbewegung und sitzt am Berliner runden Tisch.
Die Nachwende-Biografie: Nach der Wende gibt Kathrin Schmidt ihren Beruf als Psychologin auf und wird Redakteurin der Frauenzeitschrift Ypsilon. 1993 erhält die fünffache Mutter für ihre Gedichte den Leonce-und-Lena-Preis. Für ihren Roman "Du stirbst nicht" wird sie 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Das Koma: 2002 reißt ein Aneurysma in Schmidts Gehirn. Sie liegt zwei Wochen im Koma, kann danach nicht sprechen, ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt. Ihre Rehabilitation zieht sich über Jahre.
Das Wörter-Wühlen: Die Krankheit hat das Schreiben verändert. "Die Wörter sitzen oft in Nischen, manchmal muss ich wühlen, bis ich sie finde. Dann les ich so lange in meinem Wörterbuch, bis das richtige Wort vorbeikommt."
Nein, da hatte ich das nie. Ich glaube, das Schreiben war immer meine Fluchtburg für alles, was ich mich in mündlicher Sprache nicht getraut habe.
Das heißt, Sie brauchen das Schreiben jetzt gar nicht mehr so sehr?
Doch. Das ist seit 15 Jahren mein Beruf, und es ist etwas Professionalisiertes, das mir schon fehlt, wenn ich es nicht mache - genauso wie zum Beispiel jeder Hutmacherin etwas fehlen würde, wenn sie keine Hüte mehr machen könnte.
Sie haben den Deutschen Buchpreis für Ihren Roman "Du stirbst nicht" bekommen, der im Grunde genommen Ihre Krankheitsgeschichte erzählt. Hatten Sie nie Angst, darauf reduziert zu werden - also fortan nur noch die Frau zu sein, die im Koma lag?
Ich kann damit im Moment sehr gut leben. Ich genieße das noch, weil ich es ja so nicht kannte: Ich habe eine ganze Stange Geld in Aussicht. Jede Lesung ist ausverkauft, ich muss bisweilen 50 bis 60 Bücher hinterher signieren - und das macht mir Spaß!
Warum haben Sie eigentlich das Buch erst fünf Jahre nach dem Koma geschrieben?
Ich hatte nie vor, darüber zu schreiben. Ich habe 2005 einen anderen Roman veröffentlicht, mit dem hatte ich mich sozusagen aus dem Sumpf der Sprachlosigkeit gezogen. Eines Tages war es einfach über mich gekommen, mal aufzuschreiben, wie ich aus dem Koma erwacht war, und ich habe 30 Seiten in Ichform geschrieben. Einer Freundin gefiel das gut, und die sagte: "Mach doch die erste Seite zur letzten!" Auf der ersten Seite riss die Gehirnarterie, und so hatte ich den langen Weg vor mir, die Heldin zu diesem Anfang zurückzuschicken, dass sie sich erinnert, wie dieses Aneurysma geplatzt war.
Ihre Romanheldin Helene kämpft nach dem Koma genau wie Sie um ihre Erinnerung und ihre verlorene Sprache. Warum so ein persönliches Buch?
Es ist nicht meine Geschichte. Ich habe die Figur auf eine Reise geschickt, eine Reise von mir weg.
Aber Helene ist wie Sie Schriftstellerin, hat fünf Kinder …
Ja, ich habe lange überlegt, ob sie unbedingt Schriftstellerin sein muss, und habe versucht, sie Journalistin oder auch Germanistin sein zu lassen. Aber das wirkte alles nicht. Und als sie Schriftstellerin blieb, habe ich auch andere Sachen gelassen. Aber zum Beispiel hat Helene eine Affäre mit einer Transsexuellen. Das hatte ich nicht.
War das Schreiben auch Therapie für Sie?
Mein therapeutischer Prozess war bereits abgeschlossen, und je weiter ich die Heldin von mir weggeschickt hatte, desto mehr wurde es Spaß am Fabulieren, Spaß am Erzählen. Man schreibt nun mal über Sachen, über die man etwas weiß. Und ich weiß, wie es war, aus dem Koma zu erwachen und ins Leben langsam zurückzukommen.
Ihre Protagonistin kommt sehr selbstironisch und lakonisch ins Leben zurück, fast mitleidslos mit sich selbst. Waren Sie zu sich selbst auch so streng, als Sie krank waren?
Ich war überhaupt nicht streng mit mir! Ich hatte das ganz große Glück, dass ich das Schicksal von Anfang an annehmen konnte. Dafür bin ich dankbar, ohne zu wissen, wem. Ich bin von der Grundstruktur her eigentlich ein depressiver Mensch, aber während dieser Zeit im Krankenhaus habe ich nicht ein Mal gehadert oder gewütet. Selbst als ich merkte, dass ich die rechte Seite nicht mehr bewegen kann, habe ich sofort mit der linken Seite getippt. Als ich später merkte, dass ich nicht mehr Klavier spielen kann, das war schlimmer. Aber insgesamt habe ich es als Stück meines Lebens annehmen können - und das empfinde ich als Gnade.
Sie hatten Ihre Sprache verloren, konnten fast ein halbes Jahr nicht sprechen …
Viele, ganz einfache Wörter waren weg. Der Weg vom Gedanken zum Wort war gekappt. Da war zudem die motorische Sprachhemmung, die ich hatte - ich habe auch jetzt noch Schwierigkeiten bei bestimmten Zischlauten oder Silbendopplung wie bei arbei-te-te, da muss ich immer ein bisschen langsamer sprechen, das vergesse ich meistens. Die Wörter kamen aber zurück, wenn sie jemand gebrauchte.
Das heißt, Sie sahen einen Tisch und konnten ihn nicht benennen. Aber wenn jemand das Wort benutzte, wussten Sie, was es bedeutet?
Ja, genau. Wenn ich ein Wort hörte, wusste ich sofort, was es bedeutet, denn die Verbindung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung war niemals gekappt.
War Ihre Erinnerung weg?
Die kam langsam wieder. Wenn man aus dem Koma erwacht, weiß man erst einmal gar nicht, wo man ist, und man denkt auch nicht in die Vergangenheit. Aber ich wusste schnell wieder, dass ich Kathrin Schmidt bin.
Hat sich Ihr Körper schneller erholt als Ihre Seele?
Nein, der Körper hinkte hinterher; mit mir selbst war ich meist im Reinen. Ich dachte ja erst, ich muss mich verrenten lassen. Ich hatte auch schon ein Schreiben erhalten, dass ich monatlich 932 Euro bekomme. Dann hat mich mein Verleger besucht, zu einer Zeit, zu der ich noch gar nicht richtig sprechen konnte. Er hat zum Abschied gesagt: "Na, das nächste Buch machen wir dann auch wieder gemeinsam." Und das hat er mit einer Selbstverständlichkeit ausgesprochen, dass da ein Schalter gekippt ist.
Welcher Schalter ist denn da gekippt?
Mich nicht verrenten zu lassen, das Schicksal doch wieder in die eigenen Hände zu nehmen und weiterzumachen. Wahrscheinlich war ich anfangs zu schicksalsergeben. Wenige Wochen später habe ich angefangen, einen neuen Roman zu schreiben. Da bin ich noch mehrmals am Tag eingeschlafen, war auch meist nur eine halbe Stunde munter. Aber ich habe den Roman "Seebachs schwarze Katzen" damals angefangen, der dann im Jahr 2005 erschienen ist.
In dem Roman geht es um einen Stasi-Spitzel. Sind Sie in der DDR bespitzelt worden?
Meine Hauptakte ist geschreddert worden. Aber ich stelle jedes Jahr einen neuen Antrag, weil sich immer noch Blätter finden. Es sind Unterlagen gefunden worden, die mit der Gründung eines Archivs junger Autoren zu tun haben, an der ich beteiligt war und wo ich auch als "feindlich negatives Element" eingeschätzt werde.
Und Sie selbst - ist die Stasi auf Sie zugekommen?
Gott sie Dank nicht. Ich hätte bestimmt ja gesagt.
Echt? Aus Angst?
Nein, nicht aus Furcht. Mit 17, 18 war ich überzeugt davon, dass der Sozialismus das beste System auf Erden ist. Das lag an meinem Elternhaus: Mein Vater saß von 1946 an zehn Jahre im Zuchthaus Bautzen, weil er der Jugendorganisation der CDU angehörte. Als Einziger der Gruppe, mit der er verhaftet wurde, ist er nicht in den Westen gegangen - wegen seiner Eltern. Er hatte danach Angst. Es gab bei uns so etwas wie einen untergelegten Text, dass wir an nichts zu zweifeln hatten. Und so stellten wir nichts infrage.
Sie mussten also erst das Elternhaus verlassen, um am Regime zu zweifeln?
Ich studierte in Jena, wo der Bürgerrechtler Jürgen Fuchs ein Jahr vorher exmatrikuliert worden war. Das rüttelte mich auf. Später suchte ich die Nähe der Opposition. Ich hatte zum Beispiel eine Freundin, die für den Friedrichsfelder Feuermelder schrieb. Das war ein Blatt des Friedrichsfelder Friedenskreises, einer oppositionellen Vereinigung unter dem Dach der Kirche. Ich erinnere mich insbesondere an eine Studie zur Situation berufstätiger Frauen in der DDR, die der offiziellen Deutung zuwiderlief. Übrigens ist diese Freundin noch heute meine beständigste.
Sie haben zu DDR-Zeiten auch Gedichte geschrieben. Die Veröffentlichung Ihres ersten Lyrikbandes wurde wegen "politisch anstößiger Stellen" verschoben, er erschien erst 1988. Was war den Zensoren denn zu anstößig?
Da habe ich die Grenze thematisiert, also irgendeine Grenze, das war denen halt zu viel, und 88 wars dann nicht mehr so schlimm. Ich habe mir darüber nicht so viele Gedanken gemacht, weil ich ja als Psychologin gearbeitet habe und davon nicht leben musste. Wenn sie es nicht veröffentlicht haben, haben sie es eben nicht veröffentlicht. Das war völlig egal. Ich bin wahrscheinlich wirklich so ein Typ.
Was für ein Typ sind Sie nicht?
Ich bin kein Mensch, der lange fragt, warum das nun passiert ist. Ich versuche immer eher, die Situation zu retten. Auch die Krankheit habe ich ja sofort angenommen.
Mit Verlaub, aber das ist kaum vorstellbar. Sie haben das Koma hingenommen, ohne jemals zu fragen "Warum ich?". Sie haben die Vereinigung akzeptiert, obwohl sie am runden Tisch für eine eigenständige DDR eingetreten waren. Sie müssen doch auch einmal wütend gewesen sein, verbittert!
Ich war anfangs durcheinander und wütend, weil der Westen für mich damals keine Alternative war. Das hatte mit meinen fünf Kindern zu tun; ich konnte mir einfach nicht vorstellen, sie herauszureißen aus einem Schulsystem und in ein anderes reinzupfropfen, in dem jeder nur an sich denkt. Da war ich wirklich sehr konservativ. Wahrscheinlich haben die Sachen, die man uns übers westdeutsche Schulsystem erzählt hat, noch unbewusst gewirkt.
Und dann?
Bei mir kam anders als bei vielen nicht die tiefe Resignation. Ich habe gedacht, wenn das jetzt auf Anschluss hinausläuft, ist das zwar nicht so, wie ich mir vorgestellt habe, aber wir sind dann zumindest in der Weltgeschichte angekommen, in der sich alle aufhalten, und sind nicht mehr unter dieser Glocke.
So eine Glocke kann ja aber auch Sicherheit und Geborgenheit bieten - wird sie gehoben, fehlt die Orientierung. Wie war das denn bei Ihnen?
Ich habe zunächst bei einer feministischen Frauenzeitschrift gearbeitet, Ypsilon. Das war schon etwas Neues, was wir zuvor ja nicht konnten, einfach so eine Zeitschrift machen. Das Heft wurde aber nach eineinhalb Jahren eingestellt. Danach wollte ich eigentlich ganz und gar den Mund halten, da wollte ich nichts mehr schreiben, weil ich es auf einmal als solch ein Privileg empfand, dass ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte und viele andere, die ich für viel befähigter hielt, nicht. Als Psychologin arbeitete ich nicht mehr; ich habe mich dann durch ABM-Stellen gehangelt, und erst als ich im Jahr 1993 den Leonce-und-Lena-Preis bekommen habe, dachte ich: "Dann versuchst dus halt mal."
Seitdem haben Sie mehrere Lyrikbände und Kurzgeschichten veröffentlicht und darüber hinaus vier Romane geschrieben, in denen es immer wieder auch um DDR-Geschichte geht. Sind Sie also nicht nur die Frau, die im Koma lag, sondern auch immer noch die "Ostschriftstellerin"?
Bei den letzten drei Romanen noch sehr. Bei dem neuen Buch weniger. Obwohl es eben Rezensenten gibt, die diesen ganzen gesundheitlichen Zusammenbruch als Metapher für die Wende in der DDR lesen. Das finde ich schrecklich, und ich weiß überhaupt nicht, wie die darauf kommen. Und ich werde auch gefragt, warum ich denn auch in diesem Roman viel über die DDR geschrieben habe. Ich finde nicht, dass ich viel über die DDR geschrieben habe, und ich habe ja nun mal kein anderes Leben. Ich kann ja kein anderes Leben erfinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?