Mon Dieu Mondial: Nichtverpassenkönnen
■ Deutschelnde Rechtfertigungs-Recherche, Baku, Baggio und armenische Kreuzsteine
Alles glotzt. Auch öffentlich gibt es kein Entrinnen. Mit üblen Folgen: Verabredung mit einer schönen Frau. Ihr ist Fußball so egal wie Berti Vogts das Spielerische in seinem Team. Gehen wir zum Italiener? Nein, da treten die Köche in Streik ab 21 Uhr. Also irgendwo, neutraler Ort. Auch da flimmert's im Eck. Na, egal. Setze mich, Ablenkung meidend, mit dem Rücken zur Glotze.
Wir sind ins Gespräch vertieft: Es geht ums Reisen, um einen Berliner Lebenskünstler, der – „flankt von links...“ – in Baku, Aserbeidschan, Geschäfte mit Schmierkäse macht – „und wieder die Italiener... oooh, aah“ –, überhaupt die Wildheit des Kaukasus, schließlich um dortige Kunst. Gerade schwärmt sie schönaugig wärmend von armenischen Kreuzsteinen. Da trifft Di Biagio. Reporter J. Baptist Kerner kreischt. Blick schweift rückwärts. Schöner Kopfball. „Sorry, was sagtest du?“ Baku- Baggio. Der Abend wurde, sagen wir: durchwachsen.
Das Verpassenkönnen ist, auch jenseits aller Anmutungen armenischer Kreuzsteine, eine hohe Kunst. Vor allem mental. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: der Wirkstoff des WM- Dopes. Bang denkt man: Aber wenn ich dieses Spiel jetzt lasse, wird der allmächtige Fußballgott, der gemeine Lümmel, genau dieses Match zu einem Grandiosum machen. Guckst du doch, ist es wahrscheinlich ein ätzender Scheiß. Man hat Angst zu verpassen. Was sogar stimmt, fatalerweise: Man glaubt es wirklich. Aber meist verpaßt man nichts wirklich.
Nur, hilft diese Erkenntnis? Kaum. Wenn auch noch der Nationalrausch als Beidroge eingewechselt wird, verplempern selbst kluge und hochgeschätzte Menschen wie der Samstags- Kolumnist dieser Doppelspalte ihre Zeit mit deutschelnder Rechtfertigungs-Recherche. Statt sich mit seiner exzellenten journalistischen Fachkompetenz der Umwelt zu widmen! Der Zukunft! Dem Leben! Damit auf dem großen Ball der kleine weiterrollen kann! Dann erweist er sich auch noch als Fußball-Biologist: Sein Deutschland-Fantum sei „genetisch bedingt“. Erschütternd!
Übrigens 1: Nach einer Lesung meines neuen Buches bat mich, noch vor der WM, der Veranstalter um ein signiertes Exemplar für den Bundestrainer. „Bitte? Für Berti, wirklich?“ Ja, sein bester Freund sei Chef jenes Wellness-Hotels im Schwarzwäldischen, wo sich der Herr Vogts immer mental sammle, dort werde er bald erwartet, was die Übergabe des Buchs noch vor der WM garantiere. Schamgebeutelt, weil die Vogts-Passagen des Buches von wahrhaft tiefem Hohn durchtränkt sind, schrieb ich fürsorglich: „Für Berti Vogts – möge es der Iraner gnädig machen am 25.6. in Montpellier.“ Seitdem sehe ich einen anderen Vogts. Er wirkt so entspannt. Konnte ich ihn vorbereiten? Lockern? Ihm zwischenohrig helfen, also innerlich wellnessen?
Übrigens 2: Ebenfalls neulich, beim Bier unter Kollegen, outete sich einer als zum ARD- Troß gehörend, der beim Endspiel in Paris die Technik besorgt. Ob der die Macht habe, den Stecker zu ziehen, wenn Onkel Heribert dann krächzt? Theoretisch ja, sagte er. Viele Biere später waren die praktischen Möglichkeiten ausgelotet, und ihm das Versprechen entlockt, wirklich einzugreifen. Kurz nur, aber immerhin. Um 33:33 der Spielzeit soll es soweit sein. Einen Moment Sprachausfall. Eine Verpassenssekunde.
Was nur sind armenische Kreuzsteine? Ich habe es nicht mehr erfahren. Die Ablenkung war zu stark, das süße Gift des Torjubels, und Italiens Vieri traf zu oft. So fiebern wir halt dem Finale mit Heribärtchen ent gen. Tschüß, al seits. Bernd Müllender
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