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Mon Dieu MondialWo ist die Avantgarde?

■ Ob Fußball, ob Dichterschaft: Um den hiesigen Nachwuchs ist es schlecht bestellt

Im Juni habe ich meinen vierten oder fünften Versuch, Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ durchzulesen, unterbrochen, weil mich in den folgenden Wochen drei Ereignisse in Beschlag nehmen sollten: die WM (natürlich), der 22. Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis, der auf 3sat ausgestrahlt wurde, und das Ruhrwelle-Buddy-Sommerfest, das am kommenden Samstag der lokale kommerzielle Radiosender ausrichtet, den ich nie höre.

Da mein erster Roman „Peggy Sue“ heißt, wurde ich als Experte eingeladen und habe mittlerweile zirka 2.000 Seiten Literatur über Buddy Holly gewälzt. Auch habe ich mir mehrfach übersichtliche Gesamtwerke angehört (etwa 100 Titel). Was hat das mit der Fußballweltmeisterschaft zu tun?

Auf den ersten Blick nichts, aber ich habe gelesen, daß einer von Hollys Sargträgern Phil Everly war, der mit seinem Bruder Don jeden Tag bis zum Erbrechen „Wake Up Little Suzie“ als Erkennungsmelodie für das Frühstück „McMorning“ singt, mit dem eine Hamburger- Kette das WM-Studio des ZDF- Morgenmagazins sponsert.

In den 50er Jahren hatte auch der frühvollendete Texaner seine Hooligans (der Begriff geisterte schon damals durch die Presse), die unter anderem den berühmten „Boston riot“ vom Zaun brachen. Auf Buddy Hollys einziger Englandtournee saß wahrscheinlich am 14.3. 58 der junge Mick Jagger im Publikum des Granada Theaters in Woolwich. 40 Jahre später gerierte sich der Sänger der Rolling Stones als Edel-Hool bei dem Spiel England vs. Argentinien in St. Etienne. Ob er auch an die 150 Mark Eintritt abgedrückt hat wie seine zahllosen Fans, die ihn weltweit in riesigen Stadien beim Joggen bewundern dürfen?

Auf jeden Fall sah er die schönste Halbzeit des gesamten Turniers und (trotz Wörns' Foul) den dämlichsten Platzverweis, von Spice Boy Beckham. Man konnte bei dieser Partie auch erkennen, daß der Fußballnachwuchs auf der Insel seine Chance kriegt und herrliche Tore zu schießen versteht (Owen!). An der gescheiterten deutschen Mannschaft wurde immer wieder das hohe Alter kritisiert, und in der Tat sieht es in der näheren Zukunft düster mit unserer Fußballjugend aus. Da ziehe ich Parallelen zu dem Zustand der deutschsprachigen Dichterschaft.

Nachdem ich weitgehend die Feilscherei um den Bachmann- Preis am Fernseher miterlebt hatte, las ich anderntags eine dpa-Meldung, die von der Frankfurter Rundschau abgedruckt wurde, weil die sich wohl im Gegensatz zur taz keinen eigenen Berichterstatter leisten konnte, in der es hieß, daß „Experten wegen des vergleichsweise höheren Altersdurchschnitts der Autoren den Avantgarde-Charakter des Wettbewerbs vermißt (hatten)“. Wenn Avantgarde wirklich eine Frage des Alters ist, sieht es tatsächlich auch in der deutschen Literatur bedenklich aus. Wo sind die Nachfolger von Enzensberger, Handke, Walser, Grass und Kroetz, die – was immer man heute von ihnen halten mag – blutjung als Dichter Furore machten? Der bislang einzige bekannte Techno-Roman „Rave“ wurde von Rainald Goetz geschrieben, der noch oder schon in den fünfziger Jahren geboren wurde. Wo bleibt (also nicht nur im Fußball) die neue Generation? Wobei mir einfällt, daß, soweit ich weiß, bei den vergangenen 22 Bachmann- Konkurrenzen sich noch nie ein Text um die schönste Hauptsache der Welt gedreht hat, obwohl sie, wie wir jetzt wieder festgestellt haben, auch mit bescheidenen Leistungen Milliarden Menschen in Atem hält. Ich wünsche einen guten McMorning. Wolfgang Welt

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