Mohamed Turki über Interkultur: "Alles fließt ineinander"
Der tunesische Philosoph Mohamed Turki plädiert vor dem Bundesfachkongress Interkultur in Hamburg für ein neues Wir-Bewusstsein.
taz: Herr Turki, Sie sind als Beobachter zum Bundesfachkongress Interkultur in Hamburg eingeladen worden. Welcher Begriff der Interkultur wird dort verhandelt?
Mohamed Turki: So wie ich es verstehe, geht es den Organisatoren darum, wie sich die kulturelle Vielfalt in Deutschland in der Realität darstellt. Es gibt Orte, wie zum Beispiel Bremen, wo die Multikulturalität schon angekommen ist. Andere Orte, wie zum Beispiel Berlin-Neukölln, verbindet man eher mit negativen Schlagzeilen, wie Mangel an Integration und Verständnismöglichkeiten. Das geht bis hin zum Fundamentalismus-Streit, der zwischen den Salafisten und der allgemeinen Bevölkerung ausgebrochen ist.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Multi-Kulti ja bereits länger für tot erklärt. Soll der Begriff Interkultur die Vielfalt jetzt doch noch retten?
Die politische Wahrnehmung der Multikulturalität war von vornherein problematisch und hat sich nicht in Richtung eines interkulturellen Dialoges weiterentwickelt. Man hat in Schablonen gedacht: Da ist die deutsche Kultur, da die türkische, da die italienische. In Wirklichkeit fließt alles ineinander. Viele Studien zeigen, dass diejenigen Deutschen, die am meisten Kontakt zu Migranten haben, die wenigsten Vorbehalte haben, und umgekehrt.
Wo zum Beispiel?
Denken Sie an die Bevölkerung in der ehemaligen DDR, wo kaum Kontakte mit Fremden zustande kamen. Dort gab es, wie in Rostock, die gravierendsten Vorfälle. Dagegen ist der Umgang miteinander im Ruhrgebiet, wo ich jetzt wohne, wesentlich entspannter. Der Ruhrpott ist seit seiner Entstehung ein Schmelztiegel, in dem sich die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen niedergelassen haben. Hier kann keiner sagen, er sei der eigentliche Deutsche.
Wie haben Sie denn im Vergleich dazu Ihre Zeit in Bremen erlebt?
Ich habe mich in Bremen als Gast an der Uni blendend gefühlt. Ich liebe Bremen, vielleicht auch, weil ich dort einen anderen kulturellen Geist erlebt habe. Für mich steht der Roland auf dem Marktplatz für den Geist der Freiheit, gerade auch gegenüber der Kirche. Aber entscheidender als die Frage, ob ich in Bremen, in Bayern oder im Ruhrgebiet lebe, ist die soziale Lage der Menschen. Welche Vorbehalte gegenüber anderen Kulturen vorliegen, hängt stark davon ab, welche Ängste es in Bezug auf Arbeitslosigkeit und andere Krisen gibt.
Oft wird das Bild vermittelt: Auf der einen Seite gibt es Menschen mit sozialen Problemen, die sind für Rassismus anfällig, und dann ist da eine aufgeklärte, gebildete Mittelschicht, die den Benachteiligten Toleranz beibringen muss.
Das ist Schwarz-Weiß-Malerei. Konflikte sind überall vorhanden. Für einen intellektuellen Migranten ist es nicht leicht, an einer Universität Fuß zu fassen, egal wie gut sein Fachwissen ist. Auch auf dieser Ebene muss eine Bewusstseinsveränderung stattfinden.
Die soziale Lage der Menschen wird auch der Bundesfachkongress Interkultur nicht ändern. Nichtsdestotrotz will er einen Paradigmenwechsel befördern: weg von einer an Defiziten orientierten Integrationspolitik hin zur Erschließung von Potenzialen kultureller Vielfalt.
Allein die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist ein erster und guter Schritt. Wichtig ist aber auch die Förderung eines neuen „Wir-Bewusstseins“, das nicht allein das Trennende im Blick hat, sondern vielmehr das Verbindende, welches als Potential die Menschen in eine solidarische Gemeinschaft näher zueinander bringen kann, damit die gemeinsamen politökonomischen und sozialen Probleme auch gemeinsam gemeistert werden können. Im Grunde brauchen die Deutschen heute genauso die Migranten wie umgekehrt die Migranten ihre deutschen Mitbürger. Mit einer solchen Perspektive wird ein Zusammenleben in der Vielfalt und der Differenz möglich und machbar sein.
Worauf werden Sie als Beobachter, der den Hamburger Kongressteilnehmern am Ende seine Wahrnehmungen spiegelt, besonders achten?
Ich möchte zunächst unbefangen hingehen. Dennoch werde ich darauf achten, inwieweit die Dimension des Humanen richtig berücksichtigt und ihr der gebührende Platz und Wert eingeräumt wird. Wir können reichlich über die Vielfalt der Kulturen und deren Träger reden, vergessen aber oft dabei das Wesentliche, was uns verbindet, nämlich unsere Menschlichkeit. Sie ist grundlegend für unser Handeln, sofern wir uns gegenseitig wahrnehmen und achten. Wir müssen uns im Antlitz des Anderen wieder finden, wie es der Philosoph Emmanuel Levinas treffend formuliert hat.
Sie haben in unterschiedlichen Ländern gelehrt und geforscht. Haben Sie irgendwo Modelle gefunden, wie es laufen kann?
Man sucht immer nach Modellen, wie eine Integration zu schaffen ist. Aber wir haben es mit einer globalisierten Welt zu tun, da bringen keine Konzepte mehr weiter, die von nationalen Identitäten ausgehen.
Jahrgang 1945, stammt aus Tunesien, ist Philosophie-Professor und lehrte an verschiedenen Universitäten in Deutschland (Bremen, Gießen und Kassel) und Tunesien (Sfax und Tunis).
Welchen Beitrag kann die interkulturelle Philosophie leisten, die Sie vor drei Jahrzehnten mitbegründet haben?
Sie sah die Notwendigkeit über das Fremde in uns und außer uns nachzudenken und die Problematik dieser Fremderfahrung konzeptuell zu erfassen. Danach ging sie zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der eigenen und fremden Kultur über. Vordergründig wollte sie die „Froschperspektive“ des Eurozentrismus überwinden und einen Paradigmenwechsel bei der Wahrnehmung der anderen Kulturen herbeiführen, der uns ermöglicht, Vorurteile aufzuheben und sachlich nach dem Verbindenden und Trennenden in den Kulturen zu suchen. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten sind beachtlich, dennoch bleibt die interkulturelle Philosophie immer noch wie ein Waisenkind innerhalb des philosophischen Betriebes.
Der Bundesfachkongress Interkultur findet vom 24. - 26. Oktober in Hamburg statt. Weitere Informationen:
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