■ Mögliche Orte: Wetten im Wedding
Das vornehme England ist im Wedding weit weg. Die Männer, die nachmittags bei Albers in der Brüsseler Straße an den 15 Bildschirmen die Rennen auf der Galopprennbahn in Ascot verfolgen, unterscheiden sich nicht von denen, die nebenan in Kneipen sitzen und ihr weniges Geld in Bier anlegen.
Männer mit karierten Schirmmützen und Pfeife im Mundwinkel sind selten geworden unter den Zockern, Pferderennen sind kein sonntägliches Ereignis mehr, sondern grauer Alltag. Abends ab sechs bis in die späte Nacht drehen Hengste und Stuten unter den Flutlichtanlagen der Trabrennbahnen in Mönchengladbach oder München-Daglfing ihre Runden. Vor den Bildschirmen geht es nicht um Sehen und gesehen werden. An den Scheiben des Wettbüros ist eine Blende angebracht, und nur durch einen schmalen Spalt sieht man drinnen die nervös scharrenden Füße unter den Tischen mit Wettzetteln, Bierflaschen und Aschenbechern.
„Noch fünf Minuten bis zum Start“, erinnert der Kommentator des neunten Rennens in München die Kundschaft in den Wettbüros Deutschlands, „noch drei Minuten“. Dann ertönt die Titelmelodie aus „Rivalen der Rennbahn“. „Noch dreißig Sekunden bis zum Start“ – die Männer im Wedding machen hastig ihre Kreuzchen, reichen sie dem mürrischen Mann durch die Luke in seinen Holzverschlag. Dann schluckt der Computer den Wettschein und damit meistens ihren Einsatz – der Fahrer des Start- Mercedes in Gladbach tritt aufs Gas, „der Start ist freigegeben“, und die Pferde erfüllen ihre Pflicht.
Man wartet gerne bis zum letzten Moment, das bringt, wenn schon kein Glück, zumindest etwas Kitzel in die abgeschlafften Nervenbahnen. Die Entscheidung für das Siegerpferd fällt schwer und die gewaltigen Ordner, die sich neben dem Bierautomaten stapeln und sämtliche Rennberichte aus ganz Europa festhalten, nutzen den Weddingern meist wenig.
Auch die Beschreibungen der Pferde, Jockeys und Fahrer auf den Starterlisten, mit denen die Wände des Etablissements rundum tapeziert sind, wissen keinen Rat. 25 Videoschirme, die reihenweise an der Wand, in sämtlichen Ecken und von der Decke hängen, versuchen mit der Verkündung der aktuellen Quoten die Sache etwas leichter zu machen, die suggestive Stimme des Kommentators dringt tief ins Unterbewußtsein und verfolgt die Männer bis in den Schlaf. Deren Blick ist ernst, ein Lächeln selten, Verlieren die Regel. Und wenn einer gewinnt, dann nicht genug. Das Glück reicht höchstens bis morgen.
„Kannst du mir noch 'n Pfund leihen, bis nächste Woche?“ – Ehrensache unter Zockern! Schließlich kennt man sich. Die meisten sitzen schon seit Jahren hier herum. Aber Pferdewetten sind kein Kinderspiel. Wetten ist ein Geschäft, und Bruno malt einen Schuldschein: „Gerd, Dienstag, den 11. 12., 20 Mark“. Der Mann ahnt, daß er auch diesen Schein gleich wieder verliert, er weiß nur noch nicht, auf welchem Pferd. Ob mit „Kastor“, „Isotherme“ oder „New Market“, am Ende entscheidet er sich für „Bimbo Boy“, alle reden auf einmal von „Bimbo Boy“, und „,Bimbo Boy‘ kommt mit der Führung in den letzten Bogen, da kommt von außen ,Crocodile Dundee‘, ,Crocodile Dundee‘ übernimmt die Führung, ,Crocodile Dundee‘ macht die Fahrt ...“ – „Scheiße“, sagt der Verlierer und geht zum Bierautomaten.
Der mit dem Anzug und der Zeitung hat mehr Glück gehabt. Im Wettbüro ist man immer mißtrauisch, wenn ein Neuer kommt. Man ist sowieso gern unter sich im Wedding. Jetzt hat der Außenseiter ein Handy aus der Aktentasche gezogen und ist zum Telefonieren auf die Straße gegangen. „Der läßt sich eben nicht in die Karten gucken!“ sagt einer. „Arschloch!“ meint ein anderer.
Andere verstehen eben mehr von diesem Sport. Die meisten im Wedding kennen Pferde eigentlich nur vom Bildschirm. „Das ist wie mit dem Bundeskanzler oder dem Weihnachtsmann – den gibt's auch nur im Fernsehen!“ Etwa zehn Wettbüros gibt es in Berlin, gut verteilt auf die zentralen Bezirke. Nur am Stadtrand, in Grunewald oder Zehlendorf, steigt man lieber selbst aufs Pferd, und wer wetten will, muß eben in die Stadt kommen.
Im Wedding gab es bis vor kurzem gleich zwei solcher Hoffnungsschimmer für die 15.000 Arbeitslosen des Arbeiterviertels, und beide Büros hatten ihre Kunden. Denn mit einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent liegt Wedding hinter Kreuzberg immer noch an zweiter Position, dicht gefolgt von Moabit und Reinickendorf, Kreuzberg ist immer noch in Führung ... Hans W. Korfmann
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen