Mittelalter trifft Moderne: Muttermilch als frommer Ausweg
Skandal um eine Fatwa in Ägypten: Eine Frau darf sich nur dann mit einem männlichen Kollegen das Büro teilen, wenn sie ihm vorher ihre Brust gegeben hat.
Es ist so weit. Eine muslimische Frau darf sich ihrem männlichen Kollegen unverschleiert zeigen und alleine mit ihm im Büro sein. Die Fatwa - ein islamisches Rechtsgutachten - eines bedeutenden und anerkannten islamischen Rechtsgelehrten von der Al-Azhar-Universität in Ägyptens Hauptstadt Kairo macht das bisher Unmögliche möglich.
Izzat Atiyya empfahl nämlich, dass die Frau ihrem Kollegen die Brust geben soll. Richtig gelesen. Schleier ab, Brust raus, Mund ran, Milch rein, Schleier zu. Die Fatwa blieb ein Jahr lang unbeachtet, bis sie vor etwa einem halben Jahr in der Zeitschrift der Regierungspartei veröffentlicht wurde. Dann brach ein Sturm der Entrüstung los.
Atiyya erläuterte in einem Interview: "Der Stillvorgang für den Erwachsenen beinhaltet das fünfmalige Säugen. Dazu ist der gemeinsame Aufenthalt in einem geschlossenen Raum erlaubt. Das Stillen muss schriftlich dokumentiert werden. Danach darf sich die Frau vor diesem Mann unverschleiert zeigen." Und: "Der erwachsene Mann muss direkt von der Brust trinken. Andere Methoden, wie die Milch in einem Behältnis zu übergeben, sind weniger günstig."
Die ägyptischen Medien schimpften, der Informationsminister ordnete den Rückruf der Regierungszeitschrift an, die Muslim-Bruderschaft brachte das Thema ins Parlament und Dr. Atiyya wurde suspendiert. Ein Widerruf wurde nicht akzeptiert. Denn das, was der Rechtsgelehrte fordert, ist in Ägypten nicht erlaubt. Nach strenger Auslegung des islamischen Rechts dürfen nichtverwandte Männer und Frauen nicht allein in einem Raum zusammenkommen, was sich in modernen Büroberufen aber kaum durchsetzen lässt. Ein weiteres absurdes Beispiel für die strengen Alltagsregeln in islamischen Ländern ist das Autofahren. Das darf eine Frau in Saudi-Arabien noch immer nicht. Nun könnte sie ja ein Taxi nehmen. Dann aber würde sie sich mit einem fremden Mann allein in einem geschlossenen Raum aufhalten. Also bräuchte sie ein Taxi, das von einer Frau gesteuert wird. Gibt es aber nicht, denn Frauen ist ja das Autofahren verboten. Derart absurde Einschränkungen zwingen deswegen auch konservative Rechtsausleger zum Umdenken.
Zurück zur Milch. Es gibt etliche Fatwas zur Frage, ob ein Mann beim Sex die Milch seiner Frau trinken darf. Denn die Brust einer stillenden Frau gibt bei sexueller Erregung unwillkürlich Milch ab. Auch gewollte Spiele mit der Milch sind nicht selten. Aber nach islamischem Recht entsteht über die Milch der Frau eine Milchverwandtschaft. Einem Milchverwandten gegenüber braucht sich die Frau nicht zu verschleiern und sie darf alleine mit ihm in einem Raum sein. Aber Milchverwandte dürfen einander auch nicht heiraten. Diese merkwürdigen Theorien gibt es nicht nur in der islamischen Welt.
Wann genau eine Milchverwandtschaft entsteht, ist bei den verschiedenen Völkern und Glaubensrichtungen unterschiedlich definiert. Im extremsten Fall entsteht ein Eheverbot schon, sobald ein Mann nur einen einzige Tropfen Milch der betreffenden Frau trinkt. Das spielte zum Beispiel bei einigen Kaukasus- und Hindukusch-Völkern bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Rolle. Ertappte man ein unverheiratetes Paar in flagranti, dann zwang man die beiden zu einem symbolischen Stillakt. Das hatte eine Doppelfunktion: Zum einen bestrafte man die beiden mit einem ewigen Eheverbot. Zum anderen aber entstand so ein Verwandtschaftsband zwischen den beiden Clans, das eine Blutrache verhinderte. Auch das rituelle Stillen fremder Kinder kann bei einigen Völkern zur Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen stattfinden.
Die Vorstellung, dass ein einziger Tropfen Milch zum Herstellen einer Milchverwandtschaft reicht, ist aber eine Ausnahme. Es wäre ja zu absurd, wenn man den Frauen einen Königsweg gäbe, einen ungeliebten Ehemann loszuwerden: Ein Tropfen Milch unbemerkt in den Tee, und sie wäre ihn los. Und noch schlimmer: Jede Frau kann die Milchbildung jederzeit auch ohne Schwangerschaft nur durch Stimulation in Gang bringen.
Im Normalfall gilt überall die Regel, dass eine Milchverwandtschaft nur bei Kindern bis zu zwei Jahren entstehen kann, wenn sie mindestens fünfmal in dieser Zeit von der Frau gestillt werden.
In den Buchari-Überlieferungen der Sunniten ist eine Geschichte enthalten, die bei Dr. Atiyyas Auslegung eine wichtige Rolle spielt. Mohammeds Lieblingsfrau Aisha berichtet von einer Frau, die dem Propheten folgende Frage stellte: In ihrem Haus lebte ein fremder Junge, der nun in die Pubertät kam. War es nicht verboten, ihn noch länger im Haus zu behalten? Darauf antwortete der Prophet: "Säuge ihn doch!" Die Frau fragte verdutzt, wie sie ihn den säugen könne, wo er doch ein heranwachsender junger Mann wäre. Der Prophet lächelte und erwiderte: "Klar weiß ich, dass er ein junger Mann ist."
Meist liest man, dass niemand den tieferen Sinn dieser Geschichte versteht, und ich fand auch nirgendwo diese Interpretation hier: "Also, liebes Mädel, wenn dir meine Antwort absurd vorkommt, dann denk doch mal darüber nach, ob deine Frage nicht noch absurder ist. Befolge den Sinn der Regel und nicht ihren Wortlaut." Noch ein Milchtrick findet sich in Imam Maliks "Muwatta"-Überlieferungen: Ein Mann kam zu Umar ibn al-Khattab und berichtete von seiner Sklavin, mit der er schlief. Das gefiel seiner Frau offenbar nicht, denn sie zwang die Sklavin, Milch aus ihrer Brust zu trinken, und erzählte das anschließend ihrem Mann. Aber es half nichts, denn Umar riet dem Mann, seiner Frau den Hintern zu versohlen und dann wieder zu seiner Sklavin zu gehen, weil eine Milchverwandtschaft nur bei Kindern entstehen kann.
Der Witz ist, dass Dr. Atiyya nach den anerkannten Auslegungsregeln blitzsauber eins plus eins zusammengerechnet und eine Lücke im islamischen Recht ausfindig gemacht hat. Und seine Gegner scheinen nicht in der Lage zu sein, ihn mit denselben anerkannten Regeln zu widerlegen. Ausgerechnet viele Fundis werden nun zur Befürwortern der Still-Fatwa, indem sie argumentieren: Ihr könnt nicht eine Überlieferung beachten und die andere Überlieferung als Einzelfall abtun, den man ignorieren kann. Denn dann wird ja die ganze Auslegung beliebig und man kann alles hineininterpretieren, was einem gerade passt. Moderne Intellektuelle dagegen raufen sich die Haare und stöhnen, dass man schlicht nicht einfach eine Regel aus dem Mittelalter auf die heutigen Zeiten übertragen kann.
Letztlich aber ist die Fatwa eine wunderbare Satire auf jede fundamentalistische Schrifteninterpretation. Die Schiiten lachen schadenfroh über die Sunniten, weil sie die betreffenden Überlieferungen nie anerkannt hatten, und natürlich reiben sich auch die Fundi-Christen vergnügt die Hände. Die Angriffe in Internet-Blogs und YouTube sind oft unterhalb der Gürtellinie. Holen wir sie also mal auf den Teppich zurück.
Fangen wir bei den Schiiten an. Um 1865 schreibt Eduard Polak, der ehemalige Leibarzt des Schahs von Persien, Folgendes: "Reconvalescenten und durch Ausschweifungen geschwächte Personen suchen im Genuss von Frauenmilch sich die verlorenen Kräfte wieder zu ersetzen, und zwar in vielen Fällen mit unleugbar günstigem Erfolge. Auf dem Strohmarkt zu Teheran kann man oft Nomadenweiber die Milch aus ihren vollen Brüsten an Kranke verkaufen sehen." Überhaupt galt die Frauenmilch so sehr als Wundermittel, dass stillende Frauen in der Regel täglich etwas Milch für diesen Zweck extra abpumpte. Und etliche Kilometer weiter bei den Paschtunen gibt es heute noch das Sprichwort, dass jemand Feenmilch getrunken hat, wenn er unerhörtes Glück im Leben hat.
Und wie sieht es bei den Christen aus? Nun, Marias Milch war im Mittelalter die weitverbreitetste Reliquie, und bei der Milchgrotte von Bethlehem kann man sie mit etwas Glück noch heute pulverisiert in Plastiktütchen erwerben. Und dann gab es noch unerhört viele Heilige, denen die Jungfrau Maria in nicht unbedenklichen Posen erschien und ihnen die Brust zum Trinken reichte, allen voran der heilige Bernhard, der wohl mächtigste Mann seiner Zeit und große Reformator des Zisterzienserordens. Das Beispiel machte Schule, und Luther seufzte: "Ach! Was haben wir der Marien Küsse gegeben! Aber ich mag Marien Brüste noch Milch nicht, denn sie hat mich nicht erlöset noch selig gemachet."
Trotzdem lehrte Johann Heinrich Oswald, Professor für katholische Theologie, noch im Jahr 1850 die Mitanwesenheit der Milch Marias in der Eucharistie und schließt: " so ergibt sich die überaus liebliche und freundliche Vorstellung, dass der Kommunizierende mit dem Fleisch und Blut Christi die Milch der heiligen Jungfrau gleichsam aus ihren Brüsten saugt."
Da gings ihm aber wie seinem ägyptischen Kollegen, und das betreffende Buch landete im Jahr 1855 auf dem Index.
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