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„Mit saurem Regen haben wir keine Erfahrung“

■ Umweltzerstörung durch „Industrienebel“ und „Emissionsschäden“ in der DDR - ein Tabuthema / Emissionswerte seit 1982 unter Geheimnisschutz / Statt Rauchgasentschwefelung - Wachstumsprogramme für die Verbrennung von Braunkohle / Umweltschützer fordern Smog–Warnsystem in Ballungszentren

Aus Ost–Berlin Inge Reil

Der in der Überschrift zitierte Satz des Generalsekretärs Erich Honecker war in einem Interview für die Wochenzeitung Die Zeit, das in vollem Wortlaut in einigen DDR–Zeitungen erschienen war, zu lesen. Er bezog sich auf eine Frage des inzwischen ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme während einer gemeinsamen Fahrt nach Stralsund im Norden der DDR: „Was macht bei ihnen der saure Regen?“ Honeckers Antwort: „Ich bedaure Herr Ministerpräsident, mit saurem Regen haben wir keine Erfahrung.“ In der zum Thema ohnehin spärlichen DDR–Literatur gibt es zu ökologischen Fragen nur verharmlosende Begriffe. Als Synonym für Waldsterben stehen „großflächige Forstschäden“, Smog wird als „Industrienebel“ umschrieben, Luftverschmutzung und saurer Regen sind im Ergebnis allenfalls unter „Emissionschäden“ wiederzufinden. Versprechen sollen beruhigen Mit Emissionsschäden hat man in der DDR Erfahrungen - und zwar reichlich. Von den Wäldern im Ost–Erzgebirge sind nach offiziellen DDR–Angaben mindestens 100.000 ha tödlich geschädigt. Besucher der Leipziger Messe sollten die Gelegenheit nutzen, um die rauchgeschwärzten Wohngebiete der Leipziger Altstadt in Augenschein zu nehmen - eine „Lehrvorführung“ in Emissionsschäden! Saurer Regen zerstört - allerorten sichtbar - die für Leipzig typischen Sandstein fassaden. In Berlin ist sogar schon vorgesorgt. Die gerade restaurierten Standbilder der Gebrüder Humboldt vor der gleichnamigen Universität sind im Winterhalbjahr durch große Kisten geschützt. Bedauerlicherweise ist es noch nicht gelungen, die Bewohner der emissionsbelasteten Gebiete mit ähnlichen Kisten zu schützen. Die Einwohner der am höchsten belasteten Gebiete (Halle, Leipzig, Dresden, Karl–Marx–Stadt, Cottbus und Berlin) haben dafür wenigstens die Zusicherung der Volkswirtschaftsplaner, „daß die Luftqualität in den Konzentrationspunkten der Arbeiterklasse weiter verbessert werde“. (Einheit 34/1979, S. 731, Parteizeitung für Theorie und Praxis) DDR–Umweltschutzminister Reichelt sagte auf der Münchner Umweltkonferenz die Reduzierung des Schwefeldioxid–Ausstoßes um 30 Prozent zu. Diese Zusicherung bezieht sich auf den Wert von 1980: Damals rechnete man mit 3.878.000 Tonnen Schwefeldioxid jährlich (DIW–Wochenbericht 4/83, S. 43). Die heutigen Werte stehen in den Sternen und ohnehin würde ihnen kaum jemand glauben. Lebenserwartung sinkt Eine wahrnehmbare Verbesserung ist jedoch nicht eingetreten. Wie auch. In der DDR gibt es noch kein Smog– bzw. „Industrienebel“–Warnsystem. Die Förderung und Verbrennung von schwefelreicher Braunkohle „wächst“ aber weiter und planmäßig. Auffällig ist der hohe Anteil emissionsbedingter Krankheiten im Raum Halle–Leipzig. Chronische Bronchitis gibt es hier zweieinhalbmal häufiger als im Nor den der DDR. Dem entspricht auch das Nord–Süd–Gefälle der Lebenserwartung. Die niedrigste Lebenserwartung haben Menschen in den Industriegebieten Karl–Marx–Stadt und Zwickau, die höchste der norddeutsche Bezirk Rostock. 1980 betrug die Lebenserwartung der Frauen in der DDR durchschnittlich 74,6 Jahre, die der Männer 68,7 Jahre. Wird die reduzierte Säuglingssterblichkeit aus der Statistik herausgenommen, so zeigt sich eine seit den 60er Jahren stagnierende und seit 1977 gar sinkende Lebenserwartung. Nach dem Verständnis der DDR–Regierung geht es bei der Wirtschaftsentwicklung nicht um einen Selbstzweck, sondern um die Einheit von Wirtschafts– und Sozialpolitik, wobei der Mensch im Mittelpunkt steht. Um dies nicht zu einer bloßen Formel verkommen zu lassen, muß dem Umweltschutz mehr Aufmerksamkeit gewidmet und mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Er muß der Wirtschafts– und Sozialpolitik gleichgestellt werden. Eine wichtige Forderung von Ökologie–Arbeitskreisen in der DDR ist in diesem Zusammenhang ein Emissionswarnsystem in den industriellen und urbanen Ballungsgebieten. Die gemessenen Schwefeldioxid–, Stickoxid– und Staubwerte sollten im lokalen Rundfunk, im Fernsehen und in der Presse in Verbindung mit dem Wetterbericht zusammen mit entsprechenden Hinweisen für Industrie und Bewohner bekanntgegeben werden. Der Widerstand des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft gegen die Veröffentlichung der seit 1982 unter Geheimnisschutz gestellten Emissionswerte hat sicherlich etwas mit den arg begrenzten Möglichkeiten dieser Einrichtung zu tun. Durch rabiate Wachstumsprogramme unter Druck gesetzt, bleibt kaum eine Chance, etwa die Rauchentschwefelung offensiv anzugehen. Denn die Erzeugung von Elektroenergie und Heizwärme soll bei gleichzeitiger Ersetzung von Erdöl und Steinkohle durch die umweltbelastendere Braunkohle weiterhin gesteigert werden. So geht man lieber den umgekehrten Weg. Für die vom Waldsterben betroffenen Regionen ist zum Beispiel die Züchtung rauchresistenter Gehölze in Angriff genommen worden. Große Erwartungen werden deshalb nur in die Umweltverhandlungen zwischen der DDR und der BRD gesetzt, in denen die DDR wiederholt Interesse an moderner, im Westen entwickelter Umwelttechnologie angemeldet hat.

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