■ Mit den neuen Ländern auf Du und Du: Kaum Aufschwung
Brüssel (taz) – „Die neuen Länder sind noch lange nicht am Ziel einer sich selbst tragenden Wirtschaft.“ Das ist der Tenor eines Memorandums der Bundesregierung, das Wirtschaftsminister Günther Rexrodt (FDP) am Montag der EU- Kommission in Brüssel überreichte.
Ziel des zwölfseitigen Papiers war es, bei der Kommission das Mißverständnis zu beseitigen, in den neuen Ländern seien die Dinge bereits wieder im Lot. Die Kontrolle innerdeutscher Subventionen soll wieder großzügiger werden und die EU-Strukturfondsmittel sollen auch nach 1999 weiter üppig sprudeln.
Entgegen der sonstigen Gepflogenheiten stellt die Regierung die ostdeutsche Lage diesmal alles andere als rosig dar. Immer noch erreicht die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft nur 54,2 Prozent ihres westdeutschen Pendants. Nach der Wende waren es nur rund 30 Prozent gewesen.
An der Schwäche der industriellen Basis dürfte sich auch so schnell nichts ändern. Nur 2,5 Prozent der deutschen gewerblichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben fließen derzeit nach Ostdeutschland.
Kein Wunder, daß sich der wirtschaftliche Aufholprozeß immer mehr verlangsamt. Konnte 1994 noch ein volkswirtschaftliches Wachstum von 8,5 Prozent erreicht werden, so ging der Wert bereits im letzten Jahr auf 5,6 Prozent zurück und soll 1996 gar nur noch 3,5 Prozent betragen.
Im Gegenzug wird die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr um weitere 190.000 Personen ansteigen. Sie liegt mit 17 Prozent derzeit schon 6 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Weitere 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung befinden sich außerdem in „nicht-regulären“ Beschäftigungsverhältnissen wie ABM- Maßnahmen.
Alarmierend auch die Zunahme der Unternehmensinsolvenzen: 5.874 Gesellschaften mußten im Vorjahr den Gang zum Konkursrichter antreten. Das sind rund 50 Prozent mehr als 1994.
Aufgrund all dieser Faktoren bewegt sich das Bruttoinlandsprodukt der ostdeutschen Regionen immer noch bei nur 52 und 57 Prozent des EU-Durchschnittes. Zum Vergleich: In Griechenland liegt es bei 63 und in Portugal bei 69 Prozent.
Auch ein anderer Vergleich mit dem EU-Durchschnitt beunruhigt. In Ostdeutschland können nur zwei Drittel der inländischen Verwendung durch eigene Leistung gedeckt werden. In Portugal sind es sogar 81,3 Prozent und in Griechenland 88,7 Prozent. Die neuen Bundesländer sind also immer noch sehr stark auf (westdeutsche) Importe angewiesen. Umgekehrt erreichte ihr Anteil an den gesamtdeutschen Ausfuhren 1995 nur rund 3 Prozent.
Im Spagat zwischen dem üblichem Eigenlob und der situationsbedingten Elendsdarstellung meinte Günther Rexrodt lapidar: „Wir haben erst die erste Hälfte des Weges zurückgelegt“. Ob in weiteren sechs Jahren allerdings das Ende des Weges erreicht sein wird, wollte der Wirtschaftsminister nicht prophezeihen. Christian Rath
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