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■ Mit dem Rücktritt von Parteichef Rocard offenbart sich in Frankreich das ganze Ausmaß der Krise der sozialistischen Linken. Was taugt die Sozialistische Partei noch in der Ära nach Mitterrand?... damit die Linke leben kann

Mit dem Rücktritt von Parteichef Rocard offenbart sich in Frankreich das ganze Ausmaß der Krise der sozialistischen Linken. Was taugt die Sozialistische Partei noch in der Ära nach Mitterrand?

... damit die Linke leben kann

Vom „Trümmerfeld“, vom Einzug in die „Wüste“, gar vom „Ende“ ist die Rede – mit dem Rücktritt des französischen Sozialistenchefs Michel Rocard und der Ernennung eines provisorischen Nachfolgers in der Person von Henri Emmanuelli ist die französische Linke zum Nullpunkt zurückgekehrt. Denn während der erst fünfzehn Monate zurückliegende Aufstieg Rocards an die Parteispitze lediglich die Niederlage der Mitterrand-Anhänger besiegelt hatte, ist nun eine zwanzig Jahre währende Epoche zu Ende gegangen, in der die nichtkommunistische Linke sich in einer übergreifenden Organisation zu sammeln versuchte. Die Linke muß nun ihre Reste aufsammeln – ohne selbst so genau zu wissen, was sie eigentlich noch ist.

Nach dem linken Machtverlust bei den Parlamentswahlen von 1993 war Rocard als Führer der sogenannten „zweiten Linken“ bei den Sozialisten angetreten – eine christlich und alternativ-libertär geprägte Strömung, die aber auch eine konventionelle Austeritätspolitik in der Wirtschaft mittrug. Als Rocard die demoralisierte Partei im Sturm nahm, wußte er, daß er die niedergeschlagenen PS-Anhänger nur mit spektakulären Initiativen zurückholen konnte, ohne daß diese jedoch reine Luftblasen für die Medien sein dürften. Als Motor dieser Strategie war der sogenannte big bang gedacht: Eine erneuerte, verjüngte, verwandelte und sonstwie hübschgemachte PS sollte zum Zentrum einer umfassenden Neugliederung der gesamten Linken werden. Aber es geschah nichts – sieht man von den sogenannten assises de la transformation sociale ab, einer Reihe von Diskussionsrunden über die Zukunft der französischen Gesellschaft, an denen viele linke Gruppierungen und auch die Grünen teilnahmen, aus denen aber weder organisatorische Ziele noch politische Perspektiven erwuchsen. Es blieb beim Stillstand.

Das entstandene Vakuum war um so problematischer, als auch die zunächst frisch anmutenden grünen Parteien sich unfähig zeigten, ihre Wahlerfolge in eine dauerhafte Präsenz auf der politischen Bühne umzumünzen. Die sich links wähnenden Wähler Frankreichs wurden unzufrieden und rebellisch. Sie wandten sich Bernard Tapie zu – jenem schillernden Geschäftsmann aus Marseille, der sowohl fantastische Reichtümer wie auch ein fantastisches Skandal- Image angehäuft hatte und der aus dem Umfeld der PS die fast vergessene Linkspartei MRG (Bewegung der Radikalen Linken) aufgekauft hatte, als sei sie eine bankrotte Firma.

Tapie ist ein Neopopulist, der die „Sprache der Leute“ spricht und zugleich die Sympathie der Intellektuellen zu erwecken weiß, da er sich als einzige politische Kraft gegen die rechtsradikale Front National von Jean-Marie Le Pen in Marseille behauptet hat. Trotz – oder vielleicht wegen – seiner Offensive gegen die Justiz und die Medien, die ihn als korrupt darstellen, ist Tapie jetzt der Aufsteiger der Linken. Mit den 12 Prozent, die er aus dem Stand bei der Europawahl vom 12. Juni errungen hat – gegen 14,5 Prozent für Rocards PS –, kann Tapie nun sogar auf eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl in knapp einem Jahr hoffen.

Rocard, der bis zur Europawahl als „natürlicher“ Präsidentschaftskandidat der PS galt, kann dagegen alle Ambitionen begraben. All dies wird den sozialistischen Staatschef François Mitterrand sicherlich ungemein freuen – sein Haß gegen Rocard ist kein Geheimnis, und seine verdeckte Rolle bei der Förderung Tapies ist bekannt.

Rocard hatte seine Niederlage vorausgesehen. Wenige Tage vor der Europawahl hatte er ein neues „Konzept“ aus dem Ärmel geschüttelt: die nouvelle alliance. Zunächst sollte die PS „umstrukturiert“ werden, indem einige jüngere, bekanntere und nicht in die früheren Flügelstreitereien eingebundene Persönlichkeiten in die Parteiführung aufrücken sollten. Gleichzeitig sollten alle linken Parteien, Gruppierungen und Persönlichkeiten Frankreichs – auch die Kommunisten – abgeklappert werden, um den Weg zu einem breiten Linksbündnis zu öffnen. Aber wie warnte bereits Julien Dray, junger Linksführer in der PS und bisher Verbündeter von Rocard? „Damit die nouvelle alliance glaubwürdig ist, muß man klar sagen, daß es nicht darum geht, die PS zu reformieren, sondern daß das neue Bündnis allein einen Präsidentschaftskandidaten designieren soll.“ Dray und seine Freunde vergaßen dabei jedoch die Frage, wofür das neue Bündnis denn inhaltlich stehen sollte. Mit anderen Worten: Bevor über organisatorische Veränderungen gesprochen wird, muß politische Strategie diskutiert werden.

Dies hatte Henri Emmanuelli begriffen. Der einstige Parlamentspräsident setzte sich wenige Tage vor der Europawahl öffentlich von Rocard ab und verkündete, er „begebe sich in die Opposition“. Wie viele andere Sozialisten auch hatte er den Finger auf die tiefste Wunde und den Grundwiderspruch des sogenannten Rocardismus gelegt: Der Niedergang der 1971 von Mitterrand gegründeten PS ist eben nicht vorrangig eine Folge schlechter Parteiorganisation oder irgendwelcher „Kommunikationsschwächen“. Er ist vielmehr Konsequenz einer vor zehn Jahren erfolgten programmatischen Wende: der Akzeptanz der monetaristischen Wirtschaftspolitik. Dies schnitt die PS von ihrer Basis bei den nichtkommunistischen „kleinen Leuten“ ab und verdammte sie zu einer ökonomistischen, jeglicher Vision beraubten Sicht der französischen Krise.

Doch die Probleme der PS sind auch mit dem Rücktritt Rocards nicht gelöst. Wie läßt sich zum Beispiel die rot-grüne Option der Linken um Julien Dray mit der Perspektive einer Präsidentschaftskandidatur des eher als christdemokratisch denn als sozialistisch geltenden EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors vereinbaren? Der Absturz der Sozialisten ist noch lange nicht zu Ende. Und alles weist darauf hin, daß die PS selbst sterben muß, damit die Linke überleben kann.

Rocards big bang war zwar unpraktikabel, aber ehrlich. Die PS ist Mitterrands Kreation, er schuf sie, um seine eigenen Ziele zu fördern – und vielleicht, mutmaßen Beobachter jetzt, ist sie zu nichts anderem zu gebrauchen. Mit dem Ende der Mitterrand-Ära muß auch sie untergehen. Damit würde die Folge der Skandale, die Mitterrands Präsidentschaft auszeichnet, um die schlimmste Untat bereichert: die Verwandlung jener immensen Hoffnung auf Veränderung, die bei dem Sieg der Linken 1981 aufkam, in ein verwüstetes Trümmerfeld. Maurice Najman, Paris

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