■ Mit dem Onkel zur Kelly Family: Ein rothaariger Rollmops
„Gehst du mit zu den Kellys?“ bettelte Dihia. „Niemals“, antwortete ich meiner neunjährigen Nichte, „es gibt Grenzen!“ Doch sie ist zäher als ich, nach einer halben Stunde hatte sie mich soweit. „Toll, dann kannst du mich auf die Schultern nehmen“, beendete sie das Thema.
Sonntag, 3. September: Showtime! Obwohl das Spektakel auf der Liegewiese im Freibad Münster-Hiltrup erst um 18 Uhr (Einlaß 16 Uhr) beginnt, bin ich auf Befehl mit Dihia und ihren Freundinnen Ann-Kathrin und Iris schon um 14 Uhr an Ort und Stelle.
Ein paar gequält dreinblickende Erziehungsberechtigte und ungefähr tausend Minderjährige, fast nur Mädchen, fast alle im Kelly- Family-T-Shirt und fast alle mit Plüschtieren bewaffnet, drängeln sich vor den Absperrgittern, um schon beim Einlaß in der ersten Reihe zu stehen. Genervte Ordner versuchen die johlende Masse in den Griff zu bekommen – No way, Beavis! Ein alter Mann, der wahrscheinlich nur einen kleinen Sonntagsausflug machen wollte, gerät unversehens ins bonbonfarbene Getümmel, fällt fast vom Rad und torkelt jetzt orientierungslos durchs pubertierende Chaos. Niemand weiß, wie die Nonne hierher gekommen ist, auf jeden Fall wirkt die Jesus-Liebhaberin ein wenig deplaziert zwischen den ganzen Pappschildern mit „I love Paddy!“, „I love Angelo!“, „I love Johnny!“ „I love Jimmy!“.
14.30 Uhr: Der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) rückt mit einem halben Dutzend Erste-Hilfe-Fahrzeugen und einem Schlauchboot bis an die Frontlinie vor. 13- bis 14jährige Jungs knacken die ersten Dosen Bier und fangen an zu saufen. Vorne brüllen sich die Security-Muskelpakete heiser, hier hinten ist davon kein Wort zu verstehen.
15 Uhr: Die erste Panik ist da. Keine Ahnung, was passiert ist, aber alles drängelt und drückt unter irrem Gekreische noch weiter nach vorne. Nach zehn Minuten ist klar: Ein Ordner hat einen kleinen Scherz gemacht. Die Sonne verschwindet hinter Regenwolken, und die Sanitäter machen sich startklar. Und schon folgt die zweite Panik: Die angesoffene Landjugend hat ein paar Reklamezettel vollgekritzelt und brüllt jetzt: „Autogramme, kostenlose Autogramme von der Kelly Family!“ Die Deppen kommen nur knapp mit dem Leben davon.
15.30 Uhr: Ich frage einen von den ASB-Leuten, ob's denn schon Arbeit gibt, fürs Schlauchboot und überhaupt. Antwort: „Darf ich nicht sagen. Wir dürfen gar nix sagen. Wenden Sie sich doch bitte an unseren Einsatzleiter, Herrn Schild.“ Wo der denn sei, will ich gerade wissen, als die ersten Sonderbusse, rappelvoll, eintreffen. Jetzt wird's richtig widerlich. Die Ordner beginnen ihren Job zu hassen: „Bleibt stehen! Stehenbleiben, es ist noch keinen Einlaß“ und dann mit sich überschlagender Stimme nur noch: „Zurück, zurück!“
16 Uhr: Sardinendosen-Feeling. Ganz ruhig, ich habe schließlich die Rolling Stones in Schüttdorf überlebt. Aber warum haben hier nur alle Erwachsenen prall gefüllte Rucksäcke umgeschnallt? Obendrein baumelt an jedem dieser Dinger auch noch eine kleine Janosch-Holzfigur, vorzugsweise Tigerente. Vor mir steht eine Mutter und preßt mir ihren steinharten Sack vor die Brust. Ich wehre mich, indem ich mich darauf stütze, das schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein, und sie verliert ihre Brut aus dem Blick. Bevor sie durchdreht, gebe ich sie plötzlich frei, sie ruckt nach vorne, und mir knallt die Tigerente vor die Schneidezähne.
17 Uhr: Geschafft! Wir sind drin in der Badeanstalt. Die Schwimmbecken haben sie eingezäunt und den Bademeister gleich mit. Aber da hinten lockt eine Krombacher- Reklame, da muß es sein.
17.10 Uhr: Ich docke bei Krombacher an, halte mein erstes Bier fest, und es fängt an zu regnen, ach was, zu gießen. Während der Regen meinen Bierbecher nicht leer werden läßt, beginnen alle damit, Schirme aufzuspannen, und ich muß höllisch aufpassen, daß mir nicht die Augen ausgestochen werden. Dihia und ihre Freundinnen sind tief enttäuscht, sie können die Bühne kaum sehen. Zwar versuchen sie, nach vorne zu drängeln, aber die anderen Terrorkröten sind noch aggressiver und verteidigen mit Zähnen und Klauen jeden Quadratzentimeter der matschigen Liegewiese.
17.50 Uhr: „Waterworld“. Ich überlege, ob ich mir wie Kevin Costner Schwimmhäute wachsen lassen soll. Vorne auf der Bühne erklärt einer, das Konzert würde erst losgehen, wenn der Regen aufhört. „Die Verletzungsgefahr für die Band ist zu groß.“ Finde ich nicht. Laßt es uns endlich hinter uns bringen. Dafür nehme ich auch ein paar vom Blitz gegrillte Kellys in Kauf.
18.15 Uhr: Ein Wunder! Der Regen hört auf, und 15.000 Kinder machen sich naß: Die Kelly Family entert die Bühne. Der Sound ist beschissen, ein einziger Brei. Wenn nur eine Handvoll Menschen mit Musikverstand hier wären, hätten sie den Typen hinter dem Mischpult längst am nächsten T-Shirt-Stand aufgeknüpft. Statt dessen beginnt ein rothaariger Rollmops in einem Umstandskleid, etwas von roten Rosen zu trällern, und ich werde unter lauten „Maite, oh Maite“-Rufen von Dihia und ihrer Bande aufgefordert, endlich mit meinem Job anzufangen. Also wuchte ich mir die Nichte auf die Schultern. 32 Kilo Lebendgewicht, ein Klacks. Nach zehn Minuten bin ich anderer Meinung, denn wenn 32 Kilo wackeln und hüpfen, wirken sie wie 64 Kilo. Ich halte noch weitere fünf Minuten durch, in denen die Kellys mit irischem Liedgut genau das machen, was der Eisberg mit der Titanic gemacht hat, setze Dihia dann ab und besorge mir ein neues Bier.
18.45 Uhr: Ann-Kathrin hockt mir mit ihren 42 Kilo im Nacken, danach kommt Iris dran. Heilige Hölle!
19 Uhr: Mein Flehen wurde erhört! Paddy Kelly – gerade hatte er sich noch gewünscht, ein Engel zu sein, hat aber nicht funktioniert – gibt bekannt, sie würden mal eben eine Pause machen. Wir könnten ja inzwischen „Pommes essen oder so“. Paddys Wort ist hier Gesetz. 15.000 stürmen die beiden Pommesbuden.
19.40 Uhr: Meine Wirbelsäule kann ich vergessen. Das scheint aber niemanden zu interessieren. Ein Langhaariger im Leichenhemd (ist das jetzt Jimmy oder Johnny?) versucht sich an „Dreaming of a white Chistmas“. Danach geht's deutsch weiter, jawohl, können die auch. „An der Nordseeküste sind die Fische im Wasser und selten an Land“, werden wir aufgeklärt. „Proud Mary“ von CCR und auch die Beatles bekommen ihr Fett weg: „Let it be“ wird in Grund und Boden gespielt, aber „We are the world“ ist ganz passabel. Kann man eh kaum schlechter machen also Jacko und Co.
20.30 Uhr: Das Konzert ist Geschichte. Alles drängt auf den winzigen Ausgang zu. An der Haltestelle fahren gerade zwei Busse ab. Tausende warten und schauen dem ASB zu, wie der zusammengeklappte Teenies per Trage wegschleppt. Nach einer halben Stunde steuere ich die einzige Telefonzelle an, um meine Freundin zu fragen, ob sie uns mit dem Auto abholen kann. 200 entkräftete Kids hatten die gleiche Idee und blockieren Rotz und Wasser heulend den Fernsprecher.
22 Uhr: Ein Bus kommt. Alle Gesetze der Höflichkeit außer Acht lassend, schiebe und schubse ich die drei Mädchen und mich hinein. Um kurz vor 23 Uhr sind wir zu Hause.
Der Tag danach. Der Nacken ist steif, und eine alte Gewißheit wird zu einer neuen: Es gibt Grenzen! K.Paun
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