■ Mit dem Konsum auf du und du: Jammern und Klagen
Berlin (taz) – Wenn die Portemonnaies leerer werden, besinnen die Leute sich auf ihre alten Werte. Sie entdecken, daß ihre Pullis aus dem letzten Jahr zwar nicht nach dem letzten Schrei gestrickt, aber doch durchaus tragbar sind. Und auch das Auto, das ihnen vor einiger Zeit schon nach drei Jahren als Schrottmöhre erschien wäre, wird womöglich sogar zweimal durch den TÜV gebracht. Zähneknirschend verzichten die Hifi-Freunde auf neue Anlagen. Man nennt sich sparsam und lamentiert über die schweren Zeiten.
Die Händler, die Gebrauchsgüter von langer und mittlerer Lebensdauer verhökern, klagen am lautesten über den Konsumverzicht. Insgesamt meldete der Einzelhandel einen Verkaufseinbruch von drei Prozent im letzten Quartal 1993 gegenüber den Vormonaten. „Damit ist der Umsatz etwa wieder auf das Niveau vom Frühjahr 1990 – also auf ein Niveau, das vor dem Vereinigungsboom erreicht worden war – zurückgefallen“, schreiben die Experten vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Nie zuvor habe der westdeutsche Einzelhandel größere Umsatzeinbußen erlitten – eine schreckliche Nachricht im Kapitalismus mit seinem Credo ans Wachstum.
Aber auch im Lebensmittelshop und in der Drogerie gucken die Leute zur Zeit genauer auf die Preisschilder. Allein für Nahrungs- und Genußmittel gaben die Leute im letzten Jahr durchschnittlich 1,5 Prozent weniger aus; Seife und Medikamente ließen sie sich 6 Prozent weniger kosten.
Aber die KonsumentInnen sind nicht frei bei der Frage, wo sie sparen wollen. Vor allem beim Gut Wohnraum haben sie kaum eine Chance – und so langten die Vermieter wieder kräftig zu. Nicht nur durch Ausweitung des vermieteten Wohnraums kassierten die Hausbesitzer vier Prozent mehr als noch im Vorjahr. Auch verschickten sie eifrig Mietpreiserhöhungen. Durchschnittlich um sechs Prozent wurde der Quadratmeter 1993 teurer, so daß die Vermieter im letzten Jahr satte zehn Prozent mehr auf ihren Konten verbuchen konnten.
Das DIW rechnet auch in diesem Jahr nicht damit, daß die Konsumfreude wieder deutlich wächst. Die bereits geschlossenen Tarifverträge geben den Metall- und Chemiearbeitnehmern keine Chance, mehr Geld zu verprassen – und die Kürzungen bei Sozialleistungen machen den Spielraum der Empfänger von Staatsknete noch kleiner. Allgemein erwarten die Menschen, daß sich ihre finanzielle Situation in den nächsten Monaten weiter verschlechtern wird. Im Gegensatz zum Anfang des Jahrzehnts sind die meisten jetzt aber nicht mehr bereit oder fähig, die Haushaltslöcher durch Ersparnisse zu stopfen. Statt dessen greifen immer mehr ab und zu mal wieder zur Stopfnadel. aje
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