■ Mit Tscheljabinsk auf du und du: Tödliche Sperrbezirke
Berlin (taz) – In Tschernobyl hat sich nur der bekannteste, nicht der schlimmste Atomunfall der Geschichte ereignet. Hinter dem Ural den Blicken der Welt entzogen, war das atomare Inferno bereits am 29. September 1957 Wirklichkeit geworden: In der Atomwaffenschmiede „Tscheljabinsk-40“ versagte an diesem Tag die Kühlung eines Abfall-Lagers. Es kam zur Explosion, eine kilometerhohe radioaktive Wolke kontaminierte eine Fläche von mehr als 23.000 Quadratkilometern. Über 1.000 Menschen starben sofort, nach einer staatlichen Untersuchung wurden 437.000 radioaktiv verseucht.
Sogar diese Zahlen dürften eher zu niedrig sein. Die Katastrophe blieb bis zum Zusammenbruch des Sowjetsystems Staatsgeheimnis. Auch heute werden die Archive nur zögerlich geöffnet, der militärisch-industrielle Komplex entzieht sich der Kontrolle der Moskauer Regierung. Seine Stützpunkte liegen in den sibirischen Nummern-Städten, die auf keiner Karte eingezeichnet sind: Arsamas-16, Krasnojarsk-26, Swerdlowsk-44 und -45, Slatoust-36, Pensa-19. Dahinter verbergen sich Anlagen zur Produktion waffenfähigen Plutoniums, in der Regel Wiederaufbereitungsanlagen für Brennstäbe ziviler und militärischer Reaktoren. In Tomsk-7, einem weiteren dieser militärischen Sperrgebiete, die gerne „Chemiekombinat“ genannt werden, explodierte in diesem Frühjahr ein Lagertank unter immer noch ungeklärten Umständen. Zuverlässige Daten über die radioaktive Verseuchung der Umgebung liegen bis heute nicht vor. Örtliche und nationale Behörden behindern sich gegenseitig, die Militärs setzen ihr Verwirrspiel mit Verwaltungsnummern fort. Der Katastrophenort Tscheljabinsk-40 heißt heute „Tscheljabinsk-65“, später kam noch das Atomlabor „Tscheljabinsk-70“ hinzu: Der bedenkenlose Umgang mit dem mörderischsten Stoff der Menschheit ist überall derselbe. Niklaus Hablützel
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