■ Mit Handel und Entwicklung auf du und du: Fliegende Gänse
Berlin (taz) – Weltweit droht eine Deflation, wenn weiter so viele Länder ihre Wirtschaftspolitik allein auf Inflationsbekämpfung und Haushaltskürzungen ausrichten. Davor warnt die UN-Konferenz für Welthandel und Entwicklung (Unctad) in ihrem gestern vorgestellten Handels- und Entwicklungsbericht. Und: „Die Arbeitslosen in den Ländern des Nordens würden bei jeglichem Wachstumsrückgang die Hauptlast tragen.“
Während der Welthandel rasant zunimmt (1995 um acht Prozent), wächst die Wirtschaft weltweit mit 2,4 Prozent im vergangenen und vermutlich auch in diesem Jahr langsam. Die Industrieländer dürften es dabei nur auf durchschnittlich zwei Prozent bringen. In Lateinamerika rutschte 1995 in Folge der Finanzkrise in Mexiko die Wachstumsrate um über vier auf 0,7 Prozent ab. Die afrikanischen Länder schafften 1995 zwar einen Wachstumsrekord von 2,8 Prozent, aber auch mit einer solchen Rate wird die Bevölkerung nicht mal das Pro- Kopf-Einkommen von 1975 erreichen. In den mitteleuropäischen Reformstaaten sei die Wirtschaft mit 5,3 Prozent Wachstum auf dem richtigen Weg, während in Osteuropa die Produktion absteige.
Die Unctad dient als Forum für Entwicklungsländer, die über die Stimmenmehrheit verfügen. Dieses Jahr stellt sie die Entwicklung Ostasiens in den Mittelpunkt ihres Berichts. Im Schnitt kam die Region auf 6,3 Prozent Wachstum, doch der Ausblick sei nicht rosig. Dies begründen die Unctad-Forscher mit der wachsenden Konkurrenz und ganz lyrisch mit dem „Paradigma der fliegenden Gänse“. Wie ein Schwarm Wildgänse wandert die Industrie von einem Land ins nächste, sobald sich anderswo billigere Arbeitskräfte anbieten.
Die Folgen sieht die Unctad aber positiv: In Ostasien entwickele sich eine Süd-Süd-Zusammenarbeit bei Handel und Investitionen, die die Länder von den westlichen Industrieländern unabhängiger mache. Während in den früher entwickelten „Tiger“-Staaten die Produktion die technologische Leiter hochklettert, bieten sich für die Nachrücker Chancen in der arbeitsintensiven Industrie.
Wollen andere Entwicklungsländer die ostasiatische Erfolgsgeschichte kopieren, müßten sie sich laut Unctad auf den Export arbeitsintensiver Produkte konzentrieren. Durch Welthandelsliberalierung des Gatt könnten viele Länder, die Textilexporte in den nächsten zehn Jahren verdreifachen. Damit die Exportpreise nicht verfallen, wenn alle Entwicklungsländer dieselbe Idee haben, sei eine internationale Marketing- und Informationsagentur zu gründen, die die nationalen Exportstrategien koordiniert. Allerdings würde sich der Norden dann ganz schön umsehen. Wenn in zehn Jahren doppelt so viele Exporte aus dem Süden in den Norden verkauft werden, könnten zwölf Prozent der Beschäftigten arbeitslos werden. Es sei denn, die Industrieländer schaffen es, ihre Industrie komplett umzustrukturieren. Nicola Liebert
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