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Archiv-Artikel

Mit Blut, Seele und Sozialhilfe

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Der kleine Samir kniet auf dem Fußboden und räumt behutsam die Spielzeuge zurück ins Regal. Die bunten Plastikbecherchen in die eine Ecke, daneben ein paar Teller und Untertassen. Der Dreijährige weiß genau, wo alles hingehört. Das ist nicht allzu schwierig, denn die Auswahl an Spielsachen ist begrenzt. Ein paar Puppen, Autos, abgegriffene Kinderbücher liegen in den Regalen, rings um die winzigen Plastikstühle und einen Tisch, an dem ein Mädchen sitzt und malt. Hier verbringen die Kinder jeden Tag, unterbrochen nur von den Mahlzeiten, bis zum Abend. „Geschlafen wird hier“, sagt die Betreuerin Ghada und öffnet die Tür zu einem etwa acht Quadratmeter großen Raum, in dem zwischen mehreren Doppelbetten eine Wiege steht. Im Flur hängt ein eingerahmter Koranvers, die einzige Dekoration.

22 Kinder, ein paar Monate bis zwölf Jahre alt, leben in Mabaret al-Rahme, einem von der Hamas geleiteten Waisenheim in Gaza. Sie sind „illegal“ geboren, erklärt Ghada und lächelt beschämt. Illegal heißt außerehelich. Ihre Mütter haben sie heimlich zur Welt gebracht und gleich nach der Geburt irgendwo abgelegt. „Manche bringen sie bis an unsere Tür, andere legen sie vor eine Moschee.“ So spartanisch ihre Unterkunft sein mag, sie sind erst einmal gerettet. „Diese Kinder waren vom Tod bedroht“, erklärt Momen Barakat, der Direktor der Mercy Association for Children, die im gesamten Gaza-Streifen 95 Findelkinder betreut.

Die Hamas springt heute ein, wo die palästinensische Führung von Arafat versagt. Gleich neben dem Waisenhaus liegt das Janaije a-Salach, ein Wohnheim für alte Leute, die keine eigene Familie mehr haben. Kliniken, in denen die Behandlung kostenlos ist, Kindergärten, Schulen und sogar eine der beiden großen Universitäten im Gaza-Streifen gehören zur Hamas. Die Studentinnen müssen hier Schleier tragen, dafür sind die Studienkosten gering.

Es ist das Lebenswerk von Scheich Ahmed Jassin, dem Anfang letzter Woche von der israelischen Luftwaffe exekutierten Führer der Organisation, die sich für ihren grausamen Kampf gegen die Besatzung in den vergangenen Jahren einen internationalen Namen gemacht hat.

Die Ursprünge der Hamas waren weniger militant. Dem Scheich ging es bei seinem vor gut 30 Jahren aufgenommenem sozialen Engagement, vor allem im pädagogischen Bereich, zunächst um die Islamisierung des eigenen Volkes. Die Kinder lernen etwas über Mohammed, den Erlöser, und über den süßen Tod der Märtyrer. Immer wenn der Einfluss der Hamas wuchs, wurden neue Moscheen gebaut, Kinos in Brand gesetzt, wurde Alkohol von den Getränkekarten der Hotels gestrichen. Die ultrareligiösen Palästinenser sind es, die die feste Anhängerschaft der Hamas ausmachen.

Israel ließ die Hamas gewähren

Aus Hoffnung auf ein politisches Gegengewicht zur PLO Arafats ließ Israel die Islamisten zunächst ungestört gewähren. Nicht zuletzt entlastete das neue Sozialnetz auch die Besatzungsbehörden. „Frieden oder Hamas“, so erkannte der 1995 von einem jüdischen Extremisten ermordete israelische Premierminister Jitzhak Rabin mit jahrelanger Verspätung. Nicht schon den Anfängen der Hamas gewehrt zu haben gehört wohl zu den folgenschwersten Fehlern der israelischen Regierung, denn die Hamas übertrifft den Widerstandskampf der Fatah und anderer PLO-Gruppen an Grausamkeit und „Effektivität“.

„Der Prophet ist das Modell, der Koran die Verfassung, der Dschihad der Weg und der Tod für die Sache Allahs der höchste Glauben“, so der Slogan der Hamas, und Artikel 18 ihres Programms appelliert: „Wenn unser Feind islamisches Land besetzt, wird der Dschihad zur Verpflichtung, an die jeder Moslem gebunden ist.“ Von diesem Ziel hatte Scheich Jassin nie abgelassen, selbst wenn er, wie im vergangenen Sommer, einen befristeten Waffenstillstand in Aussicht stellte. Ein Kompromiss, den sein Nachfolger im Gaza-Streifen, Abdelasis Rantisi, stets ablehnte.

„Mit Blut und Seele für Palästina“, steht in arabischen Lettern an einer Häuserwand. Daneben die Bilder zweier getöteter Palästinenser. Fotos vom Scheich hängen allein im Stadion von Gaza, dort, wo vergangene Woche die Trauerfeier für ihn stattfand. Die magere Plakatierung ist verwunderlich, denn der Scheich gehörte zu den populärsten palästinensischen Politikern. Einzig Palästinenserpräsident Jassir Arafat übertraf ihn an Beliebtheit. In letzten, vor ein paar Monaten durchgeführten Umfragen im Gaza-Streifen und dem Westjordanland sprachen 26,1 Prozent Arafat ihr Vertrauen aus, Scheich Jassin kam auf 11,2 Prozent. Auf Platz drei folgt Jassin-Nachfolger Rantisi, allerdings weit abgeschlagen, mit nur noch 4,4 Prozent. Die Kluft wird bei der Frage nach der Partei, der man am meisten vertraut, deutlich geringer. Die Fatah mit 29,3 Prozent wird dicht gefolgt von der Hamas mit 22,6 Prozent, und das noch vor der Exekution Jassins, die den Fundamentalisten einen großen Popularitätsanstieg gebracht haben dürfte.

Der neue „Führer vor Ort“

Die Nachfolge Rantisis als „Führer vor Ort“ war kaum umstritten. Einzig Mahmud al-Sahar, Mitglied der Führungsliga in Gaza und ein wenig moderater als Rantisi, hoffte auf Wahlen nach Abschluss der Trauerperiode. Eine klare Mehrheit der Hamas-Führung in Gaza und im Ausland hatte sich indes schon auf den Erben geeinigt, sodass Ismail Hanije, früherer Bürochef Jassins, die Entscheidung noch vor den im Stadion versammelten Trauergästen bekannt geben konnte.

Rantisi erklärte selbst: „Ich wurde zu Lebzeiten Jassins zu seinem Stellvertreter gewählt und übernehme, entsprechend den Hamas-Statuten, die Führung.“ Damit zog er sich eine erste Rüge von Chaled Maschal zu, dem derzeit in Damaskus lebenden „Generalkommandanten“. Maschal, der 1997 einem israelischen Mordanschlag entkam und anschließend zusammen mit drei weiteren Funktionären des Politbüros in Amman vom jordanischen König des Landes verwiesen wurde, beansprucht für sich selbst das letzte Wort, und der neue Hamas-Chef in Gaza versprach eilig, sich ihm zu beugen.

Rantisi genießt nicht nur unter den Palästinensern große Popularität, sondern verfügt darüber hinaus über gute Kontakte zur Hisbollah und dem Iran, einem der großen Geldgeber der Organisation. Diese Verbindung entstand Anfang 1993, als Rabin über 400 Hamas-Aktivisten für Monate in den Libanon deportierte. Obschon die Palästinenser Sunniten sind, während die Hisbollah eine schiitische Partei ist, bestehen enge Parallelen zwischen den Gruppen. Beide gründen ihre Arbeit auf ein soziales Netzwerk, und beide streben das Ende des Judenstaates an, wobei sie offiziell auf einer strikten Trennung der politischen und militärischen Flügel beharren. Die Hisbollah spricht in ihrem Programm von dem „kleinen Teufel“ und meint damit Israel, während Amerika der „große Teufel“ ist.

Die Hamas hat von den muslimischen Brüdern im Libanon die Form der Selbstmordattentate übernommen und verfolgt, nach dem einseitigen israelischen Abzug aus dem Südlibanon vor dreieinhalb Jahren, stärker denn je die Befreiung „ganz Palästinas“, vom Jordan bis zum Mittelmeer. Der „Sieg“ der Hisbollah über die israelischen Truppen habe gezeigt, dass dies möglich sei. Der vor wenigen Wochen vom israelischen Premierminister Ariel Scharon erstmals angekündigte einseitige Abzug aus dem Gaza-Streifen wird schon als „Sieg des Widerstands“, interpretiert. Der Kampf habe die Israelis demoralisiert und sie in wirtschaftliche Not gebracht.

Was wird aus dem Abzug?

Gerade mit Blick auf den Abzug wurde die Exekution Jassins sowohl von Politikern als auch Militärs in Israel schwer verurteilt. Boas Ganor, Direktor des Politikinstituts für Counter-Terrorismus, rechnet infolge der Operation gar mit dem Aus für Ahmed Kurei, den palästinensischen Premierminister. Die Führung in Ramallah reagierte mit Trauerstreiks und Gedenkveranstaltungen. Offiziell will sich die Fatah, die Partei Arafats, noch nicht zur Vorbereitung auf den Abzug äußern. Weil dieser einseitig sei, würde er die Palästinenser zu nichts verpflichten. Außerdem glaube man weder an die Ernsthaftigkeit von Premier Scharon noch an dessen Möglichkeiten, den Abzug mit seiner derzeitigen Koalition durchzusetzen.

Mohammed Dahlan, ehemals Chef der Präventiven Sicherheitsdienste im Gaza-Streifen, wird gerüchteweise als der Mann gehandelt, der für Ordnung sorgen soll, wenn die Israelis abziehen. Schon in der Vergangenheit mussten seine Sicherheitsleute unverrichteter Dinge nach Hause gehen, weil Anhänger der Hamas Verhaftungen militanter Aktivisten verhinderten. Die Zerschlagung der islamisch-fundamentalistischen Infrastruktur fordert Israel, um den Friedensprozess wieder aufzunehmen. Unter derzeitigen Vorzeichen ein utopisches Unternehmen.