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■ Mit Arbeitslosen auf du und duOstfrauen an den Herd

Sie standen mit beiden Beinen im Leben. Sie erarbeiteten mehr als 40 Prozent des Haushaltseinkommens der Familie, waren zu 92 Prozent berufstätig. Und viele liebten neben ihrer Familie auch ihren Beruf. Heute aber, wenige Jahre nach Vereinigungsdrang und Währungsunion, haben sie nur noch ihre Familie zu lieben: die ostdeutschen Frauen.

Denn den „Umstrukturierungsmaßnahmen“ für die neue Marktwirtschaft sind besonders die Arbeitsplätze der Frauen in der Textil-, Chemie- und Leichtindustrie sowie in Handel, Landwirtschaft und Verwaltung zum Opfer gefallen. Schon im September 1991 lag die offizielle Arbeitslosenquote der Frauen bei 14,6 Prozent, die der Männer dagegen nur bei 9,5 Prozent. Real war über die Hälfte aller Frauen ohne Arbeit; bereits wenige Monate später konstatierte die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg einen Anstieg auf etwa 60 Prozent.

Einmal arbeitslos geworden, haben Frauen schlechtere Chancen, wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren. Nur 33 Prozent der 1991 arbeitslos gewordenen Frauen sind nach einem Jahr wieder fest angestellt – zum Vergleich, 45 Prozent der Männer hatten wieder einen Job gefunden. Besonders Alleinerziehende trifft die Bevorzugung männlicher Mitbewerber hart. Sie brauchen das Geld besonders dringend.

Statt dessen heißt es, Mütter seien für die Betreuung von Kindern und andere Familienaufgaben zuständig und daher weniger leistungsfähig und -bereit. So jedenfalls schmettern Unternehmer mal laut und mal hinter vorgehaltener Hand Appelle von PolitikerInnen ab, Chancengleichheit unabhängig vom Geschlecht zu realisieren.

In den vergangenen zwei Jahren verschlechterte sich die Situation der ostdeutschen Frauen auf dem Arbeitsmarkt weiter rapide. Im Juni 1992 lag die Arbeitslosenquote der Frauen mit 18,9 Prozent fast doppelt so hoch wie die der Männer. Mittlerweile sind über 70 Prozent aller in der damaligen DDR beschäftigten Frauen arbeitslos. Viele Betroffene können nach wie vor die moralische Verpflichtung ihrer neudeutschen Weiblichkeit nicht verstehen. Manche suchen ihr Arbeits-Glück deshalb im Westen Deutschlands: jährlich fahren etwa 100.000 Frauen in die alten Bundesländer zur Arbeit.

Auswege aus der Misere sind auch bei verhaltenem Optimismus nicht in Sicht. Wirtschaftswissenschaftler rechnen damit, daß sich in den nächsten Jahren die Beschäftigungszahl ostdeutscher Frauen auf altbundesdeutschem Niveau – also bei etwa 60 Prozent – einpendelt. Marita Vollborn

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