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Mißtrauen gegen Ryschkow

■ Weiterhin diskutieren die Abgeordneten des Obersten Sowjet hinter verschlossenen Türen über das neue Wirtschaftsprogramm / Reformzeitungen spekulieren mit der Möglichkeit eines Militärputsches

Moskau (dpa) — Die Abgeordneten des russischen Parlaments haben am Donnerstag mit der Diskussion einer Mißtrauenserklärung gegen den sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow begonnen. Parlamentspräsident Boris Jelzin hatte Ryschkow wiederholt zum Rücktritt aufgefordert und der Regierung „wirtschaftspolitisches Versagen“ vorgeworfen. Der Oberste Sowjet der UdSSR setzte seine Diskussion eines Programms für den Übergang des Landes in die Marktwirtschaft hinter verschlossenen Türen fort. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hatte angekündigt, den Kommissionen und Komitees des Parlaments der UdSSR einen einheitlichen Entwurf aus den Vorschlägen Ryschkows für eine „kontrollierte Marktwirtschaft“ und des Reformökonomen Stanislaw Schatalin für eine beschleunigte Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipen vorzulegen. Am Vortag sandte der Kremlchef den Parlamenten der einzelnen Sowjetrepubliken mehrere Wirtschaftsprogramme zur Diskussion. Der Wirtschaftsberater des Präsidenten, Nikolai Petrakow, erklärte am Donnerstag vor der Presse in Moskau, darunter seien neben dem Kompromißvorschlag des Ökonomen Abel Aganbegjan auch der Ryschkow-Entwurf sowie das „Gorbatschow-Jelzin-Programm“, das Schatalin ausgearbeitet habe. In einem Kommentar zu den vorliegenden Plänen von Ryschkow und Schatalin mahnte das sowjetische Parteiorgan 'Prawda‘ den baldigen Beginn der praktischen Umsetzung der Wirtschaftreform an. „Beide Programme sind nicht zufriedenstellend, aber die Zeit drängt“, schrieb die Zeitung. Die Prawda kritisierte am Programm des Ministerpräsidenten, daß die Interessen der einzelnen Sowjetrepubliken nicht ausreichend berücksichtigt würden. Seit im vergangenen Frühjahr das Regierungsprogramm ausgearbeitet wurde, habe sich die „Situation in den Republiken stark verändert“, bemerkte die Zeitung zu mehreren Souveränitätserklärungen sowjetischer Teilstaaten, die auch nach größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit verlangen. Sowjetische Zeitungen haben davor gewarnt, daß die sich weiter verschärfende Wirtschaftskrise in der UdSSR zu einem Militärputsch führen könne. Die Kulturzeitung 'Literaturnaja Gazeta‘ fragte am Donnerstag nach der Haltung der Armee, die ihre Zukunft durch Abrüstungsmaßnahmen, die Umwandlung von Rüstungsbetrieben und „zehntausender Arbeits- und Wohnungsloser“, aus Osteuropa heimgekehrter Offiziere, bedroht sieht. „Der militärisch-industrielle Komplex wird mit allen Computern alle Möglichkeiten durchrechnen und herausfinden, daß die sicherste und billigste Lösung jener Militärputsch ist, mit dem sich Politiker und Journalisten gegenseitig Angst machen und die Bevölkerung in Fieber versetzen“, schrieb die Zeitung. Wirtschaftsreformer täten so, als ob die „in ihren Lebensinteressen bereits eingeengte Armee“ gar nicht existiere. Die Wochenzeitung 'Moskowskije Nowosti‘ veröffentlichte in ihrer jüngsten Ausgabe sogar einen Ablaufplan für einen Militärputsch. Unter Berufung auf liberale Offiziere in der Sowjetarmee soll nach vorliegenden Ablaufplänen an einem „Tag X davon die Rede sein, daß die Perestroika gefährdet ist, daß der Abenteurer Gorbatschow das Land in den Ruin, die Wirtschaft zum Verfall gebracht und die Ideale des Sozialismus verraten habe“. „Die völlige wirtschafltiche Zerrüttung, die katastrophale Versorgungslage, können dazu führen, daß das Volk um den Kriegszustand bittet“, warnte 'Moskowskije Nowosti‘.

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