■ Milde Urteile gegen islamistische Mörder in der Türkei: „Der Staat ist der Mörder!“
Wer meint, daß in dem großen Sitzungssaal des Staatssicherheitsgerichts Ankara Recht gesprochen wird, der irrt. Das „Hohe Gericht“, zuständig für Verbrechen gegen den Staat, macht Politik.
Vor wenigen Wochen wurden kurdische Parlamentarier wegen ihrer Gesinnung zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Nun verurteilte das Gericht islamische Militante, die ein Hotel im zentralanatolischen Sivas in Brand steckten und dabei 17 Menschen töteten, ebenfalls zu 15 Jahren. Die Politmörder im Namen des Islam wurden verurteilt wie ein Bauer, der wegen des Streits um einen Acker seinen Nachbarn erschlägt. Das Gericht sah es nicht als organisiertes Verbrechen an, wenn in Flugblättern zum Mord an dem türkischen Schriftsteller Azim Nesin aufgerufen wird und anschließend unter dem Gejohle der fanatisierten Massen mit Benzin ein Hotel angesteckt wird, um führende Intellektuelle des Landes bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Entsprechend der Strafvollzugsordnung werden die Mörder, die zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, nach fünf Jahren auf freiem Fuß sein. Selbst dieses milde Urteil war den Verurteilten zu hoch. Noch im Gerichtssaal stießen sie neue Morddrohungen aus.
Die verurteilten kurdischen Abgeordneten hatten stets vom Frieden gesprochen. Das Strafmaß für die Rede vom Frieden ist das gleiche wie für das Abfackeln von Menschen. Doch nicht genug damit. Das Gericht begründete die milden Urteile damit, daß der Schriftsteller Aziz Nesin „offene Provokation“ dadurch betrieben habe, daß er die türkische Publikation der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie in Angriff genommen habe. Desweiteren stellte das Gericht Strafantrag wegen „Verleumdung der Religion“ gegen den 79jährigen Schriftsteller. Für das Opfer, dessen Schriftstellerfreunde im Hotel verbrannten, wird jetzt der Staatsanwalt sieben Jahre fordern. Der Wahn der politischen Justiz ist grenzenlos.
Das Staatssicherheitsgericht ist kein Ort der Gerechtigkeit. Es ist Zentrum der Macht. Alle Bestrebungen der Rechtsanwälte der Opfer, im Prozeß auch die staatliche Verantwortung zum Gegenstand zu machen, wurden abgewiesen. Die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen. Wichtige Zeugen wurden nicht gehört. Die Frage, warum der Staat acht Stunden untätig zuschaut, während Fanatiker Menschen morden, wurde wohlweislich nicht beantwortet. Schließlich will dieser Staat die Islamisten nicht vergraulen. Manchmal drückt er ein Auge zu. „Der Staat ist der Mörder“, riefen Angehörige der toten Opfer, nachdem das Urteil verkündet worden war. Ömer Erzeren
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen