Migration und Kultur: "Das Wir-Gefühl ist weg"

Der Dramaturg Tuncay Kulaoglu vom Ballhaus Naunynstraße interpretiert ein Stück klassischer "Gastarbeiterliteratur" neu

taz: Herr Kulaoglu, Grundlage Ihres Projekts ist Aras Örens Buch "Was will Niyazi in der Naunynstraße" von 1973. Es gilt als erstes großes Werk der "Gastarbeiterliteratur". Welche Bedeutung hat das Buch für Sie?

Tuncay Kulaoglu: Örens Buch macht den Schmerz der Migration fühlbar. Meine Eltern kamen 1973 nach Deutschland. Damals wurden die ersten Arbeitervereine von Türken hier gegründet, die Menschen wurden in den Gewerkschaften, in den Parteien aktiv. Örens Niyazi ist ja ein Arbeiter mit einem ausgeprägten Klassenbewusstsein. Für mich sind die Migranten der ersten Generation Helden. Der Mut, der hinter ihrer Entscheidung zur Migration steckte, macht sie dazu. Das lese ich in Örens Buch.

Heute nimmt man MigrantInnen kaum als aktive, politisch denkende und handelnde Menschen wahr.

Die Jugend heute ist tatsächlich nicht mehr so politisch. Man muss sich in die Zeit zurückversetzen. Damals war auch die deutsche Gesellschaft politisiert: Es gab die 68er, später den bewaffneten Kampf der RAF. In den Achtzigerjahren fand eine Entpolitisierung statt, mit dem Fall der Mauer gab es dann auch unter den Migranten einen Rückzug ins Private. Zudem hat sich die türkische Community, die ja nie eine einheitliche war, im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausdifferenziert, atomisiert würde ich fast sagen. Ein bestimmtes Wir-Gefühl ist weg. Dabei werden den Menschen immer noch Rechte, etwa das Wahlrecht, verwehrt. Aber darüber redet heute fast niemand mehr. Wir reden nur über Probleme.

Was hat sich in der Naunynstraße verändert?

Zum einen ihr Gesicht: Heute gibt es Bäume, die Innenhöfe der Häuser sind verschönert worden, es gibt Neubauten. Auch das war ein interessantes Erlebnis bei der Recherche für unser Stück: Unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen die ersten MigrantInnen damals hier gelebt haben, in kaputten grauen Häusern, ohne Grün. Zudem die Bewohner: Früher gab es viele alleinstehende ältere Frauen, deren Männer im Krieg gefallen waren. Heute läuft die dritte, vierte Einwanderergeneration durch die Straße. Viele leben von Sozialhilfe, haben keine Ausbildung. Das betrifft nicht nur die, die aus der Türkei stammen. Es ist ein Schichtproblem.

Welche Gesichter der Straße bekommen die Zuschauer Ihres Parcours zu sehen?

Wir gehen in Innenhöfe und Keller, in Künstler- und Geschäftsräume. Die beteiligten KünstlerInnen sind nicht nur vom Theater, sie kommen auch aus den Bereichen Kunst, Musik, Film und Tanz. Alle haben den Text von Aras Ören als Grundlage für ihre Arbeit bekommen - jeder konnte damit machen, was er will. Der Istanbuler Alper Maral, Komponist für neue Musik, hat eine kleine Oper komponiert. Der Theater- und Filmregisseur Neco Celik, der selbst in der Naunynstraße aufgewachsen ist und immer noch hier lebt und arbeitet, hat die Gedanken von Jugendlichen als eine Art inneren Monolog inszeniert. Der aus Ostberlin stammende Regisseur Lukas Langhoff hat mit türkischen Rentnern gearbeitet. Die Naunynstraße hat viele Gesichter.

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