Mieses Fett wie eine Bratwurst: Mythos Milch
Der Streit um die Milchpreise hält weiter an. Das Produkt wird in Deutschland aber überschätzt - von sahnigen Tomatensoßen bis hin zum orginal-teutonischen Latte Macchiato.
An diesem Freitag empfängt Angela Merkel (CDU), gemeinsam mit der CSU-Agrarministerin Ilse Aigner, eine Delegation von Milchbäuerinnen im Kanzleramt. Vor zwei Wochen hatte sie die hungerstreikenden Landfrauen vor ihrer Haustür einfach sitzen lassen. Auf die unerwartet heftige Kritik reagierte sie mit einem Besuch auf einem Hof in Niedersachsen. Auch das war nicht recht. Sie traf dort den bei Milchlobbyisten wenig geliebten Bauernpräsidenten.
Es könnte sein, dass die Kanzlerin die Bedeutung der Milch ein wenig unterschätzt hat. Nicht wegen der 99.000 Milchbauern, sondern wegen der symbolischen Rolle, die der Kälbernahrung und ihren Derivaten im kollektiven Bewusstsein der Mitteleuropäer zugemessen wird.
Schon die Reisenden früherer Jahrhunderte bemerkten den grundlegenden Unterschied zwischen der mediterranen Ölbaumkultur und der nordeuropäischen Weidekultur, die den Kontinent bis heute kulinarisch spaltet. Wo im Süden silbrig schillernde Olivenhaine das Landschaftsbild prägen als Inbegriff von Kultur, die in der Grundbedeutung stets Agrikultur meint - so ist es von der Normandie über Niedersachsen und Bayern bis nach Österreich die Kuh auf der Weide, die als Glückssymbol herhalten muss.
Wo der Nordeuropäer mit Butter brät und reichlich Sahne in seine Soßen schüttet, operiert der Südeuropäer lieber mit Olivenöl. Das führt bis heute zu kulinarischen Missverständnissen. Wer bei einem deutschen Provinzitaliener Nudeln mit Tomatensoße bestellt, muss sich auf eine Tomaten-Sahne-Soße gefasst machen - ein Widerspruch in sich, weil es die mediterrane Tomatenkultur mit der norditalienisch-mitteleuropäischen Sahnekultur auf unzulässige Weise vermischt. Ähnlich geht es in Billigpizzerien zu, wo alle subtileren Aromen unter kaum fassbaren Mengen an billigstem Reibekäse verschwinden.
Obendrein nehmen die Deutschen unentwegt Milchgetränke zu sich, die sie fälschlicherweise für italienisch halten. Latte macchiato, das teutonische Modegetränk, gilt südlich der Alpen als Aufbaunahrung für Kinder und Kranke. Körperlich unversehrte Erwachsene trinken den Caffè selbstverständlich pur, ohne den Zusatz von Babynahrung. Nur im ehemals österreichischen Triest ist der "Gocciato" verbreitet, ein Espresso mit einem winzigen Tröpfchen Milch.
Ein Cappuccino wird allenfalls am Morgen konsumiert, vor der Aufnahme fester Nahrung. Wer ihn nach einer Mahlzeit bestellt, beleidigt den Koch. Die jüdischen Speisegesetze, die eine strikte Trennung von Fleisch und Milch vorschreiben, sind insofern gar keine religiöse Besonderheit. Sie schreiben nur fest, was im Mittelmeerraum einst selbstverständliche Übung war.
Die kulturelle Kluft schlägt sich auch statistisch nieder. Verbrauchte jeder Deutsche im Jahr 2006 durchschnittlich 92,3 Liter an flüssigen Milchprodukten, waren es in Italien nur 57,4 Liter. Ohne die norditalienische Milchzone läge der Wert noch niedriger. Bei der Butter steht einem deutschen Pro-Kopf-Konsum von 6,4 Kilogramm sogar nur ein italienischer Verbrauch von 2,8 Kilogramm gegenüber.
Ernährungswissenschaftler glauben schon lange, dass im Gegensatz von Kuh und Ölbaum ein wichtiger Schlüssel für die geringere Lebenserwartung in Nordeuropa liegt. Gesättigte Fettsäuren gelten als Hauptrisiko für Herz und Kreislauf. Aufgenommen werden sie hierzulande hauptsächlich in Form von Milchprodukten wie Butter, Sahne, Käse. Auch Vollmilch ist nicht so harmlos wie oft vermutet. Ein Liter enthält 35 Gramm schlechtes Fett, ungefähr so viel wie eine fette Bratwurst. Viel gesünder ist ein Stück mageres Fleisch, mit Olivenöl zubereitet.
Trotzdem wird die Milchlobby nicht müde, ihr Produkt als gesund anzupreisen. Die aggressive Vermarktung als Schulmilch soll den Markt beleben. Im zurückliegenden Wirtschaftsboom gelang es sogar, Milchprodukte bei den arglosen Chinesen zur Ikone der Verwestlichung zu erheben - und die Preise kurzfristig in die Höhe zu treiben. Dass sie jetzt wieder sinken, ist schlecht für die Bauern, aber gut für die Menschheit.
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