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■ Michel Rocard will den gordischen Knoten durchhauenEin Geniestreich

Wohin man auch blickt im traditionsreichen europäischen Parteiengefüge – überall Götterdämmerung. Geradezu niedlich nimmt sich das Ausmaß der deutschen Parteiverdrossenheit aus, wenn man es mit den dramatischen Existenzkrisen der großen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien vergleicht. Daß die Volksparteien in Deutschland ihre Legitimationsprobleme bereits zu Beginn der achtziger Jahre mit der Flick-Affäre hatten, erweist sich jetzt als Frühwarnsystem, das Schlimmeres bislang verhinderte. Der damalige Aufstieg der Grünen bekommt somit im nachhinein fast staatserhaltende Qualitäten.

Besonders die sozialistischen Parteien werden von einem Bedeutungsverlust ohnegleichen gebeutelt. Bei ihnen verbindet sich die allgemeine Unzufriedenheit mit der politischen Klasse mit der eigenen Sinnkrise nach dem Ende der Entspannungspolitik zu einer hochbrisanten Mischung. Die Frage, die vor 1989 niemand zu denken gewagt hätte, steht schon an der Wand geschrieben: Wird es diese Parteien überhaupt auf Dauer geben? Und wenn nicht, was kommt danach? Treiben wir auch im Westen Europas auf einen Zustand struktureller Unregierbarkeit zu? Füllen – wie in Italien – jetzt die Richter und Staatsanwälte das entstandene Machtvakuum aus? Oder die neuen populistischen Bewegungen? Oder – wie in Deutschland – die Medien?

Eine solche Krisensituation schreit nach einem Alexander. Und siehe da, mit Michel Rocard hat sich einer gefunden, der sich anschickt, den gordischen Knoten zu durchhauen. Sein Vorschlag könnte das alte Parteiengefüge der Nachkriegszeit von Grund auf revolutionieren. Nicht Juniorschaften und Kohabitation bietet er an, sondern Auflösung der Sozialistischen Partei zugunsten von etwas völlig Neuem, einer neuen Formation aus Ökologen, Bürgerrechtlern, liberalen Sozialisten, KP-Dissidenten.

Soviel persönliche und wahltaktische Überlegungen diesem Vorschlag auch beigemengt sein mögen – er ist mehr ein Geniestreich als ein Bubenstück. Das zeigen auch die leidenschaftlichen Debatten, die er schon auslöste. Das liegt nicht zuletzt an seiner großen symbolischen Aussagekraft. Das Angebot der Selbstauflösung der Sozialistischen Partei entspricht dem Bedürfnis nach einer ernsthaften und grundlegenden Kritik der bisherigen Praxis. Das Angebot eines neuen Bündnisses antwortet auf den Ruf nach einer Zeitenwende und der Erneuerung aller Parteien. Der große gemeinsame Nenner reagiert auf den öffentlichen Überdruß am kleinlichen Vorteils- und Konkurrenzdenken des linken und alternativen Spektrums.Der Rocard-Vorschlag markiert einen deutlichen Abschied von den Generationen verdienter Funktionäre der politischen Linken, die die Nachkriegszeit und die Ära des Kalten Krieges dominierten. Und er signalisiert Aufbruchstimmung, in der sich alle Karten neu mischen können. Die Themen eines solchen neuen Bündnisses liegen auf der Hand. Sie betreffen all die Fragen, die die reichen Wohlstandsgesellschaften des europäischen Fin de siècle ihren Nachkommen unbewältigt hinterlassen: Die Umweltbedrohung, die Menschenrechtsproblematik, die Staatsverschuldung und die Unerfüllbarkeit des bisherigen Generationenvertrages, die neue Weltordnung angesichts eines anwachsenden Chaos-Pegels. Wer angesichts dieser Aufgaben nicht über völlig neue, bisher nicht für möglich gehaltene Bündnisse nachdenkt, dem fehlt es offenbar an beidem: an Verantwortung und an Phantasie. Der Anfang ist gemacht. Man darf gespannt sein, welche Veränderungen sich im Parteiensystem Italiens und Frankreichs in der nächsten Zeit ergeben. Das Überspringen der Debatte auf Deutschland ist dann nur eine Frage der Zeit. Antje Vollmer

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