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Archiv-Artikel

Merkels Patchwork-Politik KOMMENTAR VON JENS KÖNIG

Dass Angela Merkel ihre erste große Rede als Kanzlerin ausgerechnet einen Tag nach Bekanntwerden des Geiseldramas im Irak halten musste, war natürlich Zufall – ein tragischer zwar, aber nichtsdestotrotz sehr lehrreicher. Der plötzliche Einbruch der Weltpolitik zeigt noch einmal aus einer anderen Perspektive, wie selbstbezogen und operettenhaft sich der politische Betrieb in Berlin seit Schröders Neuwahl-Coup im Mai aufgeführt hat. Und er beweist, dass die Wirklichkeit meistens unvorhersehbarer, härter und disparater ist, als Politiker in ihrer scheinbaren Allzuständigkeit sich eingestehen wollen. Da helfen auch noch so ausgefeilte Koalitionsverträge nicht weiter.

So gesehen ist das Zusammenspiel von Geiseldrama und Regierungserklärung sogar eine nachgereichte Begründung für Merkels Wahldebakel: Ideologen einer „Politik aus einem Guss“ kommen in der fragilen Welt von heute nicht mehr weit. Genau aus diesem Grund musste die frisch gewählte Kanzlerin gestern ja auch die Patchwork-Politik ihrer großen Koalition verteidigen und durfte kein Loblied auf die schwarz-gelbe Wunderwelt singen. Gemessen an diesen bescheidenen Ansprüchen passte Merkels Rede genau zur Politik ihrer Regierung. Sie war nicht kraftvoll, nicht zukunftsweisend und schon gar nicht visionär. Ihre Regierungserklärung war vor allem eines: ernüchtert. Ein ehrliches Bekenntnis zu einer Politik der kleinen Schritte. Das muss in diesen Zeiten, in denen große politische Würfe nur noch um den Preis von intellektueller Vereinfachung oder sozialer Verwerfung zu haben sind, nicht das Schlechteste sein.

Misst man die Antrittsrede einer Kanzlerin jedoch daran, ob sie es durch eine überzeugende Inszenierung vermag, eine neue Politik zu begründen und dafür eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung zu erzeugen, dann war Merkels Auftritt eine Enttäuschung. Sie mochte noch so oft von „neuen Wegen“ sprechen, sie mochte die Gesellschaft noch so eindringlich auffordern, „mehr Freiheit“ zu wagen und „den Schwachen“ zu helfen – das blieben Plattitüden, die über die sozialen Härten ihrer Politik nicht hinwegtäuschen konnten. Eine große Koalition mit den Bürgern ist auf diesem Wege kaum zu schließen.