Merkel-Biograf Langguth: "Die CDU staubt Themen ab"

Progressiv an der CDU ist aus Sicht des Merkel-Biografen Langguth das Überwinden konfessioneller Schranken: Die führenden Figuren der Partei sind heute evangelisch.

"Die soziale Frage wird das Hauptproblem für Merkel im Wahlkampf" Bild: dpa

taz: Herr Langguth, ist die CDU eine Programmpartei?

Gerd Langguth: Nein, das war sie im engeren Sinne nie. Sie hat ja auch erst spät, nämlich 1978, ihr erstes Grundsatzprogramm beschlossen. Die CDU ist eine unideologische Partei. Ihr Erfolgsgeheimnis ist: Zum Machterhalt kann sie sehr pragmatisch sein.

Warum braucht die CDU dann ein neues Grundsatzprogramm?

Angela Merkel wird sich überlegt haben: Wie kann ich die Partei sinnvoll beschäftigen? Die Arbeit der Regierung wird am wenigsten durch Grundsatzdiskussionen gestört. Eigentlich kann das Programm von 1978 in den grundsätzlichen Fragen des christlichen Menschenbildes kaum verbessert werden. Aber eine Partei, die kein neues Programm hat, gilt als unmodern. Und im Übrigen hat die CDU auch früher schon Programme zum politischen Kurswechsel genutzt.

In dem neuen Programmentwurf ist von allem etwas drin. Es wimmelt nur so vor "Gerechtigkeit", aber auch "Freiheit", "Marktwirtschaft" und "Leitkultur". Was soll man damit anfangen?

Die CDU ist mal als "Catch all Party" bezeichnet worden - also als eine Volkspartei, die alle Schichten ansprechen und einfangen will. Das spiegelt sich natürlich auch in der Programmatik wieder. Nur Klientelparteien können präzise sein. Im Kalten Krieg war das noch einfacher: Die Partei hatte ein klares Feindbild, sie wusste, wogegen sie war. Die Begründung, für welche Ziele sie eintritt, war überhaupt nicht nötig.

Früher stand die CDU für: katholisch, konservativ, antikommunistisch. Wofür steht sie heute?

Ganz so war das auch früher nicht. Die CDU ist in ihrem Selbstverständnis nie nur konservativ gewesen. Sie hat drei Wurzeln: eine konservative, eine liberale und eine soziale. Katholisch schien sie früher mehr, weil sie zum großen Teil auf dem katholischen "Zentrum" aufbaute. Aber das Progressive an der CDU war gerade die Überwindung der konfessionellen Schranken, die es in den Parteien der Weimarer Republik gab. Heute sind alle führenden Figuren der Union evangelisch: Merkel, Pofalla, Kauder. Sogar der bayerische Ministerpräsident Beckstein ist Protestant. Das ist fast eine Kulturrevolution. Es gibt manchen Unmut in Teilen der katholischen Kirche, aber damit kann die Union leben.

Weil traditionelle Bindungen unwichtiger geworden sind?

Es gibt in der Gesellschaft eine zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile. Das führt dazu, dass sich Milieus auflösen. Das geht auch an der CDU nicht spurlos vorüber. Deshalb versucht sie, für jede wichtige Zielgruppe irgendwas zu formulieren, damit sich diese wiederfinden. Aber ich kann Ihnen verraten: Im normalen Leben eines Abgeordneten spielt das Programm sowieso keine Rolle. Es ist eher etwas für Polittheoretiker.

Haben Sie das neue CDU-Programm gelesen?

Ja, klar.

Und? Ist bei Ihnen etwas hängen geblieben?

Ja, die Abschnitte zur Familienpolitik. Da gibt es schon einen Modernisierungsschub. Es werden auch Patchworkfamilien angesprochen, bis hin zu neuen Lebensgemeinschaften. Man kann sagen: Auch die CDU ist in der gesellschaftlichen Realität angekommen. Das passt nicht allen in der CDU, aber das steht jetzt im Programm drin.

Ebenso wie das Betreuungsgeld - um wie gehabt vor allem Mütter zu fördern, die zu Hause bleiben.

Natürlich muss es Programmpunkte geben, die für eine eher konservativere Klientel bestimmt sind. Es konnte nicht gehen, "von der Leyen pur" zu formulieren. Auch ihre Gegenspieler müssen sich wiederfinden.

Also gibt es auch bei der Familienpolitik für jeden etwas. Was hält die CDU heute denn noch zusammen?

Die CDU, so viel kann man zumindest immer noch sagen, steht für ein anderes Menschenbild als die SPD. Der Staat hat nicht alles zu leisten. Während die Sozialdemokraten bei politischen Fragen im Zweifel immer eher eine staatliche Lösung wollen, favorisiert die CDU im Zweifel eher eine individuelle Lösung, weil sie glaubt, dass dies der Natur des Menschen gerechter wird. Das ist der eigentliche Kern des programmatischen Unterschieds zwischen CDU und SPD.

Sie sind seit 1969 CDU-Mitglied. Was, außer in der Familienpolitik, hat sich seitdem in der Partei verändert?

Die CDU Angela Merkels ist eine andere geworden: viel pragmatischer, sehr viel nüchterner. Früher gab es viele markante Persönlichkeiten, die die Flügel in der Fraktion repräsentierten. Heute dominiert das Denken, man müsse immer in der "Mitte" sein. Und die CDU staubt wichtige Themen von anderen ab: Klima, Familie, sogar Soziales.

Rührt daher die Unzufriedenheit an der Basis? Ein Drittel der CDU-Mitglieder ist der Meinung, dass die Partei ihre Prinzipien verraten hat. Jeder Fünfte hat schon an Austritt gedacht.

Das liegt daran, dass das Profil der CDU in dieser Regierung unterbelichtet zu sein scheint. Im Koalitionsvertrag hat sich die SPD an vielen Punkten durchgesetzt, und Angela Merkel hält sich an diese Vereinbarung. Das ist einerseits ein Grund für ihre große Beliebtheit: Eine stark sozialdemokratisch geprägte Politik, geführt von einer christdemokratischen Kanzlerin - das entspricht der Konsenssehnsucht vieler Deutscher. Aber engagierte CDU-Leute leiden darunter. Denken Sie an den Frustausbruch von Wolfgang Bosbach, der nach dem Rückzug von Friedrich Merz seine ganze Enttäuschung herausgelassen und gesagt hat, solche Gedanken habe er auch.

Welche Politik vermissen die engagierten CDU-Leute denn konkret?

Ein Teil der Agenda, die Unionsleuten besonders wichtig ist, kann überhaupt nicht umgesetzt werden, beispielsweise bei der inneren Sicherheit. Der erfahrene Wolfgang Schäuble hat sich in wichtigen Fragen nicht durchsetzen können. Auch weil er in der argumentativen Außendarstellung überzogen hat. Damit hat er der SPD die Gelegenheit gegeben, der CDU ein kraftvolles "Njet" entgegenzuschleudern.

Zu wenige Sicherheitsgesetze also. Und sonst?

Bei der Liberalisierung des Arbeitsmarktes ist nichts erreicht worden. Und für manche ist die Politik von Frau von der Leyen ein Problem, die ja auf Konzepte zurückgreift, die aus der SPD kommen. Hier muss man allerdings unterscheiden zwischen Wählern und Funktionsträgern. Die Wähler sind sehr nahe bei Frau von der Leyen. Die Funktionsträger sind in der Regel konservativer. Von denen fühlen sich viele unwohl.

Aber keiner muckt auf. Warum nicht?

Wegen Merkels sehr guten Umfragewerten, aber auch wegen der Mentalität in der CDU: Konservative sind der Führung gegenüber loyaler als andere Parteien.

Auch autoritätsgläubiger?

Das nicht, in internen Diskussionen geht es durchaus heftig zur Sache. Aber es gibt ein anderes Gefühl von Loyalität gegenüber Vorsitzenden als in stärker programmatisch ausgerichteten Parteien. Deshalb sind bürgerliche Parteien robuster, es gibt nicht diese anarchischen Reflexe wie bei der SPD. So etwas wie der Sturz Scharpings auf einem Parteitag wäre bei der CDU undenkbar.

Für die CDU, die Sie beschreiben, ist Merkel die perfekte Vorsitzende: Programmatisch unsichtbar, nicht zu fassen. Mit ihr ist politisch alles möglich.

Sicher hat Angela Merkel kein so ausgeprägtes, christlich-demokratisches Wurzelwerk wie die "Eiche" Helmut Kohl. Sie deshalb aber als programmatisch unsichtbar hinzustellen, wäre falsch. Sie schätzt den Wert der Freiheit höher ein als viele Westpolitiker. Ihr Impetus gegen die Regulierungswut des Staates ist auch durch ihre DDR-Erfahrung bedingt, ebenso ihre natürliche proamerikanische Einstellung. Sie denkt nicht nur pragmatisch. Andererseits: Sie ist erst mit 36 Jahren in die CDU eingetreten, in der Partei nicht so verwurzelt. Sie kann Wechselwähler besser ansprechen. Sie macht keine ideologischen Schaukämpfe, sie kann leichter Positionen räumen, Kompromisse eingehen.

Aber was treibt sie an, was will sie? Einfach nur an der Macht bleiben?

Das wäre zu kurz gegriffen. Sie will sich durch Spitzenleistungen verwirklichen. Das ist ihr eigentliches Lebensziel. Sie sucht Selbstbestätigung in der von anderen anerkannten Leistung. Sie will besser sein als alle anderen. Das ist ihr als Pfarrerstochter von ihren Eltern eingebläut worden. Ihr wurde gesagt: Du kannst nur dann studieren, wenn du durch deine Leistung unangreifbar bist. Das hat sie verinnerlicht. Das bekommen jetzt ihre Verhandlungspartner zu spüren, national und international.

Besser zu sein, ist noch kein politisches Ziel. Hat Merkel eins?

Sie hat inzwischen erkannt, dass sie ein Lebensthema braucht. Jeder Regierungschef muss sich ja die Frage stellen: Womit werde ich identifiziert, wenn ich irgendwann das Amt abgebe? Nach meiner Überzeugung hat sie dieses Lebensthema gefunden.

Wir hören?

Sie will als Klimakanzlerin in die Geschichtsbücher eingehen.

Merkel will die Welt retten?

Na ja. Sie übertreiben, aber sie nimmt die Klimakatastrophe wirklich ernst. Angela Merkel hat als frühere Umweltministerin in Kioto mitverhandelt und erkannt, dass das Umweltthema eine Schicksalsfrage ist und die Menschen bewegt. Hier ist sie authentisch. Natürlich gefällt es ihr auch, wenn sie der SPD und den Grünen so ein Thema wegnimmt.

Reicht das für den Wahlkampf 2009? Diese wird mit dem Thema soziale Gerechtigkeit entschieden. Da hat Merkel nicht viel zu bieten.

Die soziale Frage wird sicher das Hauptproblem für Merkel im Wahlkampf. Trotzdem hat sie beste Chancen auf eine Wiederwahl und eine lange Amtszeit. Das hat auch damit zu tun, dass sie im Prinzip für alle Koalitionen, außer mit der tiefroten Linken, offen ist. Auch mit den Grünen. Allein der Gedanke, dass sie Frau Künast und Herrn Trittin in einer Jamaika-Koalition domestizieren könnte, würde ihr schon viel Freude machen. Ich sage jedenfalls voraus, dass sie an die lange Amtszeit Kohls herankommen wird.

Wollen Sie uns Angst machen? Oder nur die Auflage Ihrer Merkel-Biografie hochtreiben?

Ich will der taz die Möglichkeit geben, sich langfristig an Frau Merkel abzuarbeiten.

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